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Massenentlassung Mutterschutz / Elternzeit Umstrukturierung

Massenentlassungsschutz auch in der Elternzeit – Oder: BVerfG gegen BAG

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Bei Restrukturierungen müssen Unternehmen die Regelungen zur Massenentlassung gemäß § 17 KSchG beachten. Abhängig von der Betriebsgröße und der Anzahl der innerhalb von 30 Kalendertagen beabsichtigten Entlassungen besteht danach eine Anzeigepflicht bei der Agentur für Arbeit, § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG. Zudem muss der Arbeitgeber vorab ein Konsultationsverfahren mit dem zuständigen Betriebsrat durchführen, § 17 Abs. 2 KSchG. Kündigungen unter Verstoß gegen diese Vorschriften sind unwirksam. Das Bundesverfassungsgericht (stattgebender Kammerbeschluss v. 8.6.2016 – 1 BvR 3634/13) hat den Massenentlassungsschutz nun für Mitarbeiter in der Elternzeit, deren Arbeitsverhältnisse außerhalb des 30-Tages-Zeitraums gekündigt werden, gestärkt.

Was war die Ausgangslage?

Die Beschwerdeführerin war als Mitglied des Bodenpersonals bei einer Fluggesellschaft angestellt, die in Deutschland insgesamt 69 Arbeitnehmer an verschiedenen Standorten beschäftigte. Es bestanden mehrere örtliche Betriebsräte und ein Gesamtbetriebsrat. Ende 2009 stellte die Fluggesellschaft den Flugbetrieb in Deutschland ein. Nachdem die Fluggesellschaft den örtlichen Betriebsrat angehört und eine Massenentlassungsanzeige für alle Arbeitsverhältnisse vor Ort erstattet hatte, sprach sie im Dezember 2009 und Januar 2010 Kündigungen aus. Das Bundesarbeitsgericht erklärte diese Kündigungen später für unwirksam, weil das nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliche Konsultationsverfahren mit dem zuständigen Gesamtbetriebsrat nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Zum Zeitpunkt der Kündigungen der übrigen Mitarbeiter befand sich die Beschwerdeführerin in Elternzeit. Das Arbeitsverhältnis mit ihr kündigte die Fluggesellschaft erst im März 2010, nachdem die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde nach § 18 Abs. 1 S. 2, 3 BEEG a. F. die Kündigung während der Elternzeit für zulässig erklärt hatte.

Mit ihrer Kündigungsschutzklage unterlag die Beschwerdeführerin in allen arbeitsgerichtlichen Instanzen. Insbesondere hielt das Bundesarbeitsgericht (Urteil v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12) die Kündigung des Arbeitsverhältnisses für nicht anzeigepflichtig gemäß § 17 KSchG. Denn die Kündigung der Beschwerdeführerin sei nicht im Zusammenhang mit denjenigen der anderen Mitarbeiter erfolgt und falle damit nicht in den 30-Tages-Zeitraum des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG. Gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde.


Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde für begründet erachtet, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aufgehoben und das Verfahren an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen. Es nahm einen Verstoß gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG normierten allgemeinen Gleichheitssatz an, weil die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit ihrer Elternzeit, welche unmittelbar an die verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Elternschaft anknüpft, vom Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes ausgeschlossen worden sei. Obwohl das Bundesarbeitsgericht den Schutz bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG grundsätzlich auch Arbeitnehmern in Elternzeit zukommen lasse, knüpfe es hinsichtlich des für eine Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG relevanten 30-Tage-Zeitraums ausschließlich an den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungen an.

BAG-Urteil soll zu geringerem Schutzniveau in Elternzeit führen

Daraus ergebe sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere im vorliegenden Fall der Betriebsstilllegung ein geringeres Schutzniveau für die Beschwerdeführerin, die aufgrund ihrer Elternzeit nach dem Willen des Gesetzgebers besonders schutzbedürftig sei und deshalb besonderen Kündigungsschutz genieße. Denn im Falle einer Betriebsstilllegung erkläre die hierfür zuständige Behörde die Kündigung trotz der Elternzeit regelmäßig für zulässig. Die Verzögerung der Kündigung durch das Abwarten auf diese Erklärung führe jedoch dazu, dass die Kündigung erst außerhalb des 30-Tage-Zeitraums ausgesprochen werden kann, so dass für diese Kündigung die Schutzmechanismen der Massenentlassung nicht greifen.

Diese Benachteiligung kann auch nicht durch den während der Elternzeit bestehenden besonderen Kündigungsschutz gerechtfertigt werden. Die Konsultation des Betriebsrats und die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit würden denjenigen genommen, die aufgrund besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen. Im konkreten Fall wirke sich der Verlust des Massenentlassungsschutzes auch nachteilig aus, da das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin früher endete als das der anderen Beschäftigten, deren Kündigungen wegen Verstoßes gegen die Vorschriften des Massenentlassungsschutzes unwirksam waren.

Faktische Benachteiligung

Zudem verstoße die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, eine Kündigung unterfalle nur dann den für Massenentlassungen geltenden Regelungen, wenn sie innerhalb des 30-Tage-Zeitraums des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG zugehe, im konkreten Fall gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG in seiner Verstärkung durch das Gleichstellungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG und führe zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zwar knüpfe die Schlechterstellung an die Elternschaft an. Jedoch treffe sie damit Frauen in erheblich höherem Maß als Männer, weil Elternzeit bislang in evident höherem Maß von Frauen in Anspruch genommen wird.

Verfassungskonforme Auslegung

Die dargelegte Benachteiligung von Personen mit besonderem Kündigungsschutz lasse sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Normen erreichen: Hierzu müssen die ihnen gegenüber erklärten Kündigungen, die allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugehen, weil erst ein anderes, nicht gleichwertiges behördliches Verfahren durchzuführen war, so behandelt werden wie Kündigungen, für die die Regeln des Massenentlassungsschutzes gelten. Bei Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz gelte dann der 30-Tage-Zeitraum nach § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG auch dann als gewahrt, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb dieses Zeitraums erfolgt ist.

Übertragbarkeit der Entscheidung auf weitere Fallgruppen?

Durch die Entscheidung vom 8.6.2016 hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls den Schutz von Beschäftigten in Elternzeit bei Massenentlassungen gestärkt. Darüber hinaus dürfte die Entscheidung auch für andere Beschäftigte mit besonderem Kündigungsschutz relevant sein, bei denen ein behördliches Zustimmungserfordernis und damit das Risiko einer Verzögerung der Kündigung besteht. Dies betrifft etwa schwerbehinderte Arbeitnehmer, deren Kündigung nach § 85 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf, sowie Beschäftigte, die eine Pflegezeit nach dem Pflegezeitgesetz in Anspruch nehmen. Bei letzteren bedarf eine Kündigung gemäß § 5 Abs. 2 PflegeZG der Zulässigkeitserklärung der für Arbeitsschutz zuständigen obersten Landesbehörde. Im Rahmen von Massenentlassungen muss ihnen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund von Art. 3 Abs. 1 GG (und für Schwerbehinderte zusätzlich wegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) derselbe Schutz nach § 17 KSchG zukommen wie allen anderen Gekündigten.

Entscheidung des BAG bleibt abzuwarten

Das Bundesarbeitsgericht muss sich nun erneut mit dem Fall der Beschwerdeführerin beschäftigen. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesarbeitsgericht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bei seiner Entscheidung umsetzt. Bei seiner Ausgangsentscheidung vom 25.4.2013 hat das Bundesarbeitsgericht noch ausdrücklich betont, dass unter dem Begriff der „Entlassung“ in den §§ 17, 18 KSchG aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben die Erklärung der Kündigung zu verstehen ist.

Auf mögliche Fehler bei Massenentlassungen geht Sebastian Bröckner im Beitrag „Fehler bei Massenentlassung: Das Aus für die Kündigung?“ ein. Wie Unternehmen Fallstricke beim Personalabbau rund um das Thema „Massenentlassung“ vermeiden können, zeigt der Beitrag von Christoph Crisolli „Massenentlassung und Betriebsrat: Fallstricke beim Personalabbau vermeiden!“.

Dr. Alexa Paehler, LL.M.

Rechtsanwältin
Fach­an­wäl­tin für Arbeitsrecht
Principal Counsel
Alexa Paehler berät Arbeitgeber schwerpunktmäßig bei Kün­di­gungs­rechts­strei­tig­kei­ten, zu Organverhältnissen (Geschäfts­füh­rer/Vorstände), kollektivarbeits­recht­li­chen Fragen sowie zu Unter­neh­mens­käufen.
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