Nun geht es Schlag auf Schlag: Nur einen Monat nach der Verkündung der ersten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum gesetzlichen Mindestlohn folgte jetzt bereits die zweite. Am 29.06.2016 entschied das höchste deutsche Arbeitsgericht über die gegen ein Urteil des LAG Köln vom 15.10.2015 eingelegte Revision (5 AZR 716/15). Inhaltlich geht es um die Frage, inwieweit Bereitschaftszeiten mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten sind.
Worum ging es in dem Fall?
Ein Rettungssanitäter mit einem Grundgehalt von EUR 2.680,31 brutto wähnte im Januar 2015 und Februar 2015 eine Bezahlung unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns. Sein Arbeitsvertrag verweist auf die Regelungen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst („TVöD“). Dieser sieht eine wöchentliche Vollarbeitszeit von 39 Stunden vor, enthält aber Sonderregelungen für den Rettungsdienst. Dort beträgt die wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden und es sind Bereitschaftszeiten zu leisten. Die Summe aus Vollarbeits- und Bereitschaftszeiten darf 48 Stunden pro Woche nicht überschreiten. Als Ausgleich werden Bereitschaftszeiten zur Hälfte auf tarifliche Vollarbeitszeit von 39 Stunden pro Woche angerechnet, d.h. faktorisiert. Die Summe aus tatsächlich geleisteter Vollarbeitszeit und faktorisierter Bereitschafszeit wiederum darf 39 Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Letztlich schuldete der Arbeitnehmer damit pro Woche bis zu 30 Stunden Vollarbeit und bis zu 18 Stunden Bereitschaftszeit. Weil sein Gehalt aber lediglich auf der Basis von 39 Stunden berechnet würde, machte er geltend, entweder würden von den 18 Stunden Bereitschaftszeit nur 9 bezahlt oder alle 18 würden mit der Differenz zur Bezahlung der 30 Stunden Vollarbeit vergütet – und damit entweder gar nicht oder mit einem Stundenlohn von weniger als EUR 8,50 brutto (9/39 von EUR 2.680,31 brutto = EUR 618,53 brutto monatlich = EUR 7,90 brutto pro Stunde). Infolge der Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns sei die übliche Vergütung in Höhe von EUR 15,86 brutto pro Stunde zu bezahlen (EUR 2.680,31 brutto : 169 Stunden pro Monat bzw. 39 Stunden pro Woche). Er forderte deswegen für Januar 2015 und Februar 2015 jeweils die Zahlung von EUR 618,65 brutto nebst Zinsen. Nachdem sowohl die Klage als auch seine Berufung erfolglos geblieben waren, hat das Bundesarbeitsgericht („BAG“) auch die Revision des Klägers zurückgewiesen. Zwar sei die Bereitschaftszeit geschuldete und mindestlohnpflichtige Arbeitsleistung. Sämtliche Ansprüche wären aber erfüllt. Das gezahlte Gehalt läge oberhalb der Summe, die sich bei Multiplikation der pro Monat maximal zu leistenden Stunden mit EUR 8,50 brutto ergäbe.
Und das bedeutet?
Bislang liegt zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 29.06.2016 (5 AZR 716/15) lediglich eine Pressemitteilung vor, eine endgültige Bewertung wird daher erst bei Vorliegen des Urteils in vollständig abgefasster Form vorgenommen werden können. Aus der Pressemitteilung lassen sich indes bereits einige wichtige Eckpunkte ableiten:
- Der Referenzzeitraum für die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns ist der Kalendermonat. Wie auch bereits in seiner ersten Entscheidung hierzu vom 25.05.2016 (5 AZR 135/16) knüpft der 5. Senat für die Frage der Erfüllung gem. § 362 Abs. 1 BGB an diese Zeitspanne an. Er prüft, wie viele Arbeitsstunden der Kläger „in einem Monat“ maximal leisten könnte und vergleicht das Ergebnis mit dem tatsächlich für diesen Zeitraum ausgezahlten Betrag. Hier zeigt sich also eine erste Festigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die für Arbeitgeber mit einem erfreulichen Zuwachs an Rechtssicherheit verbunden ist. Obwohl das Gesetz in § 1 Abs. 2 Satz 1 Mindestlohngesetz („MiLoG“) davon spricht, dass der Mindestlohn „pro Zeitstunde“ gezahlt werde, kann dieser also – auf den Monat betrachtet – durchaus schwanken, solange sich nur bei einer ex-post Betrachtung ein durchschnittlicher Stundenlohn von mindestens EUR 8,50 brutto ergibt.
- Bereitschaftszeiten sind vergütungs- und damit mindestlohnpflichtig. Wie nach der Entscheidung des BAG vom 19.11.2014 (5 AZR 1101/12) zum Mindestentgelt in der Pflegebranche gem. § 2 PflegeArbbV zu erwarten, hat der 5. Senat dies nun auch für den gesetzlichen Mindestlohn gem. § 1 Abs. 1 MiLoG bestätigt. Doch Vorsicht bei den Begrifflichkeiten: Stets muss im Einzelfall geprüft werden, ob es sich um „Bereitschaftszeit“ in diesem Sinne handelt. Der vom BAG beurteilte § 9 Abs. 1 Satz 1 TVöD definiert diese wie folgt: „Bereitschaftszeiten sind die Zeiten, in denen sich die/der Beschäftigte am Arbeitsplatz oder einer anderen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle zur Verfügung halten muss, um im Bedarfsfall die Arbeit selbständig, ggf. auch auf Anordnung, aufzunehmen und in denen die Zeiten ohne Arbeitsleistung überwiegen.“ Nach der klassischen Terminologie erfasst diese Definition sowohl die Arbeitsbereitschaft (Tätigwerden von sich aus) als auch den Bereitschaftsdienst (Tätigwerden auf Anforderung). In beiden Fällen muss sich der Arbeitnehmer zudem an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und darf, ohne Pause oder Freizeit zu haben, nicht frei über die Nutzung des Zeitraums bestimmen können. Eine solcherart „vom Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit“ ist als vergütungspflichtige Leistung der versprochenen Dienste gem. § 611 Abs. 1 BGB anzusehen (BAG, Urt. v. 19.11.2014 – 5 AZR 1101/12). Die Mindestlohnpflichtigkeit beurteilt sich also stets nach dem einzelfallbezogen festzustellenden Inhalt der in Rede stehenden Leistung des Arbeitnehmers.
- Der gesetzliche Mindestlohn ist auch für Zeiten zu bezahlen, in denen nicht „tatsächlich“ gearbeitet wird. Hier besteht indes nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu der Entscheidung des 5. Senats vom 25.05.2016 (5 AZR 135/16), in der von der Bezahlung der „geleisteten Arbeitsstunde“ die Rede ist. Es ist nämlich zu trennen zwischen der praxisbezogenen Sichtweise und der rechtlichen Definition der vergütungspflichtigen Arbeit. Nach der Rechtsprechung des BAG kann eben unter bestimmten Bedingungen auch in einem „sich Bereithalten“ eine vergütungspflichtige „Leistung“ liegen, obwohl rein betriebswirtschaftlich währenddessen nicht „produziert“ wird. Vorsicht ist außerdem erneut geboten bei einer Verallgemeinerung: Erklärungen des BAG, wie mit dem Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn z.B. während der Entgeltfortzahlung bei Krankheit (§ 2 EFZG) oder im Urlaub (§ 11 BUrlG) sowie während des Annahmeverzugs (§ 615 BGB) zu verfahren wäre, liegen bislang nicht vor.
- Die Folgen einer mindestlohnwidrigen Vergütungsregelung bleiben unklar. Im konkreten Fall musste das BAG diese Frage nicht entscheiden, weil sich die Regelung im Arbeitsvertrag in Verbindung mit dem TVöD durch die Begrenzung der höchstzulässigen Arbeitszeit (48 Stunden pro Woche) und das für deren Bezahlung ausreichende Grundgehalt als „mindestlohnfest“ erwiesen hat. Denkbar ist, dass anderenfalls der Mindestlohn als „Auffangnetz“ einspringt, d.h. der Arbeitgeber nicht „höher“ als EUR 8,50 brutto pro Stunde „fällt“. Stattdessen könnte aber auch § 612 Abs. 2 BGB eingreifen mit der Folge, dass die „übliche“ Vergütung geschuldet wird (die erheblich über dem Mindestlohn liegen kann). Letzteres hatte der Kläger in der Entscheidung des BAG vom 29.06.2016 (5 AZR 716/15) geltend gemacht, und nicht etwa EUR 8,50 brutto, sondern die von ihm errechneten EUR 15,86 brutto (und damit fast das Doppelte!) verlangt. Gegen die Anwendung von § 612 Abs. 2 BGB spricht indes, dass es nicht an einer Vergütungsregelung fehlt, sondern diese zu niedrig ist. Die Regelung ist gem. § 3 Satz 1 MiLoG nur „insoweit“ unwirksam und kann auf das gesetzliche Niveau angehoben werden.
Besteht Handlungsbedarf für Arbeitgeber?
Mit Blick auf das zweite „Mindestlohnurteil“ des BAG sollten Arbeitgeber (tarifliche) Vergütungsregelungen zu „Bereitschaftszeiten“ und ähnlichem auf ihre Mindestlohnfestigkeit hin überprüfen. Dass ein „Mindestlohn-Monitoring“ überdies regelmäßig notwendig ist, zeigt die anstehende Erhöhung des Mindestlohns auf EUR 8,84 brutto zum 01.01.2017. Wie schon die Einführung kann dies bei kritischen Arbeitsverhältnissen (Prüffrage: Vollzeitgehalt von ca. EUR 1.500,00 brutto?) und geringfügigen Beschäftigungen dazu führen, dass das monatliche Entgelt die geleisteten Stunden nicht mehr mit mindestens EUR 8,84 brutto vergütet. Neben der Sozialversicherungspflicht droht dann in allen Fällen die Unwirksamkeit der Vergütungsabrede gem. § 3 Satz 1 MiLoG mit derzeit noch offenen Folgen.