§ 104 Satz 1 BetrVG berechtigt den Betriebsrat, vom Arbeitgeber die Entlassung bzw. Versetzung eines Arbeitnehmers zu verlangen, wenn dieser den Betriebsfrieden wiederholt ernstlich gestört hat und diese Störungen auf einem gesetzeswidrigen Verhalten beruhen oder durch grobe Verletzung der in § 75 Abs.1 BetrVG enthaltenen Grundsätze verursacht sind. Diese Vorschrift wollte sich ein Betriebsrat in einem durchaus als kurios zu bezeichnenden Fall zu Nutze machen:
Er fühlte sich durch den Geschäftsführer der Komplementärin der Arbeitgeberin, einer GmbH & Co. KG, wiederholt nicht ausreichend und falsch informiert. Dadurch sei der Betriebsfrieden wiederholt ernstlich gestört worden. Deshalb sei der Geschäftsführer zu „entfernen“.
Das Arbeitsgericht Bochum und zweitinstanzlich das Landesarbeitsgericht Hamm haben diesem Begehren eine klare Absage erteilt (LAG Hamm, Beschluss vom 2. August 2016 – 7 TaBV 11/16). Nachdem die vom Betriebsrat zunächst eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde kürzlich zurückgenommen worden ist, ist die Entscheidung mittlerweile rechtskräftig.
Ist der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff für § 104 BetrVG maßgeblich?
Der Betriebsrat argumentierte im Kern wie folgt: Wenn § 104 BetrVG schon für einen „kleinen“ Arbeitnehmer gelte, dann müsse die Vorschrift auch für Geschäftsführer eingreifen. Für diese Sichtweise glaubte der Betriebsrat eine Stütze sowohl im Sinn und Zweck der Norm als auch in der Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff gefunden zu haben. Nach der Rechtsprechung des EuGH könne der Arbeitnehmerbegriff auch Organvertreter erfassen. Da § 104 BetrVG auch der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien diene, sei bei seiner Auslegung der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff zu Grunde zu legen.
Das LAG Hamm teilte diese Auffassung nicht. Für den Anwendungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes und damit für die Anwendung des § 104 BetrVG sei allein § 5 BetrVG maßgeblich. Dieser lege in Abs. 2 im Wege der Fiktion fest, wer nicht als Arbeitnehmer im Sinne des BetrVG gelte. Der Geschäftsführer einer GmbH falle unter § 5 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG, sodass § 104 BetrVG auf ihn keine Anwendung finde.
Hieran ändere auch das unionsrechtliche Verständnis des Arbeitnehmerbegriffs nichts. Denn dies setze voraus, dass die Normen in Ausfüllung europäischer Richtlinien erlassen wurden. Da § 104 BetrVG nicht auf der Umsetzung einer, den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff zu Grunde legenden EU-Richtlinie beruhe, sei der Arbeitnehmerbegriff nicht im unionsrechtlichen Sinne auszulegen.
Nach dem Beschluss des LAG Hamm findet § 104 BetrVG auf Geschäftsführer daher keine Anwendung. Entsprechendes gilt für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft (siehe Vertiefungshinweis am Ende dieses Beitrages.). Obwohl jede andere Entscheidung überraschend gewesen wäre, ist die klare Positionierung für die Praxis begrüßenswert. Denn die Unsicherheit, welche Vorschriften und Rechtsbereiche den Geschäftsführer als Arbeitnehmer erfassen, ist nach den Entscheidungen des EuGH nach wie vor groß.
Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff
Die Entscheidungen des EuGH zum „unionsrechtlichen“ Arbeitnehmerbegriff (EuGH vom 11. November 2010 – C-232/09 „Danosa“; vom 9. Juli 2015 – C-229/14 „Balkaya“ und vom 10. September 2015 – C-47/14 „Holtermann“) gehen von einem weiten Arbeitnehmerbegriff aus. Hiernach kann – je nach betroffener Norm – auch der deutsche (Fremd-)Geschäftsführer dem Arbeitnehmerbegriff unterfallen. Der in diesen Entscheidungen geprägte „unionsrechtliche“ Arbeitnehmerbegriff gilt jedoch nicht für die Auslegung aller deutschen Rechtsnormen, die an den Arbeitnehmerbegriff anknüpfen.
Wann gelten (Fremd-)Geschäftsführer als Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne?
Das unionsrechtliche Verständnis des Arbeitnehmerbegriffs setzt bei der Anwendung des nationalen Rechts stets voraus, dass es sich um solche Rechtsvorschriften handeln muss, die in Ausfüllung der erlassenen europäischen Richtlinien ergangen sind. Dies betont zutreffend auch das LAG Hamm.
Den vorgenannten Entscheidungen des EuGH lagen beispielsweise nationale Vorschriften in der Umsetzung folgender Richtlinien bzw. die Auslegung folgender Verordnung zugrunde:
- In der Rechtssache „Danosa“ die Mutterschutzrichtlinie (Richtlinie 92/85/EWG)
- In der Rechtssache „Balkaya“ die Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG)
- In der Rechtssache „Holtermann“ die Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit (Verordnung (EG) Nr. 44/2001).
Soweit mithin nationale Normen auf der Umsetzung von Richtlinien beruhen, die den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff zu Grunde legen, ist davon auszugehen, dass diese Schutzgesetze auch für (Fremd-)Geschäftsführer Anwendung finden können. Als Beispiele seien das MuschG, das AGG, das Arbeitszeitgesetz oder das Bundesurlaubsgesetz genannt. Dagegen dürften Gesetze und Rechtsnormen, die nicht auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen, weiterhin nicht auf (Fremd-)Geschäftsführer anwendbar sein, da allein der nationale Arbeitnehmerbegriff maßgeblich ist. Beispiele hierfür sind das Arbeitsgerichtsgesetz, das Entgeltfortzahlungsgesetz oder § 1 KSchG
§ 104 BetrVG ist allein nationalem Recht zuzuordnen
Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses kam das LAG Hamm zu dem zutreffenden Ergebnis, dass die Vorschrift des § 104 BetrVG alleine nationalem Recht zuzuordnen ist und keine Auslegung im unionsrechtlichen Sinne erfolgen muss. Insbesondere lehnte es die Auffassung des Betriebsrats, § 104 BetrVG diene der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43/EG, 2000/78/EG und 2002/73/EG), zu Recht ab. Der Arbeitnehmerbegriff des § 104 BetrVG weist keinerlei Bezug zur Antidiskriminierungsrichtlinie auf.
§ 104 BetrVG ist keine Vorschrift zum Arbeitnehmerschutz
Nur am Rande sei erwähnt, dass es sich bei der Argumentation des Betriebsrats ohnehin um einen „Kunstgriff“ gehandelt hat. Denn der Betriebsrat wollte aus der von ihm zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum besonderen Schutz von Arbeitnehmern eine Rechtsposition ableiten, die einen Schutz des „Arbeitnehmers“ im Ergebnis gerade verhindert hätte. Nichts anderes geschähe nämlich, wenn man den gesetzlichen Vertretern des Arbeitgebers zunächst – unter dem Deckmantel des Arbeitnehmerschutzes – als Arbeitnehmer qualifizierte, nur um ihn dann anschließend aus dem Betrieb „entfernen“ zu können.
Geschäftsführer der Komplementärin einer GmbH & Co. KG ist Organmitglied
Schließlich hat das LAG Hamm die Anwendbarkeit der Fiktion des § 5 Abs. 2 BetrVG auf Geschäftsführer der Komplementärin einer GmbH & Co. KG bestätigt. Schon seit längerem höchstrichterlich geklärt war diese Frage für den teilweise wortgleichen Paragraphen des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG. (BAG, Beschluss vom 20. März 2008 – 5 AZB 79/02). Denn der Geschäftsführer einer Komplementär-GmbH einer KG ist kraft Gesetzes zur Vertretung dieser Personengesamtheit berufen und gilt nicht als Arbeitnehmer im Sinne des ArbGG.
Nichts anderes gilt im Rahmen des § 5 Abs. 2 BetrVG: Das Verhältnis des Geschäftsführers der GmbH zur KG ist durch seine Organstellung geprägt. Er ist nach Ansicht des LAG Hamm als Organmitglied im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG einzustufen und gilt nicht als Arbeitnehmer der KG im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes.
Fazit
Die Entscheidung des LAG Hamm ist zu begrüßen. Der Geschäftsführer ist Teil des Arbeitgebers, nicht Arbeitnehmer im Sinne des § 104 BetrVG – auch nicht aus unionsrechtlichem Blickwinkel. § 104 BetrVG kann nicht dazu missbraucht werden, aus Sicht des Betriebsrates missliebige Geschäftsführer aus dem Betrieb zu „entfernen“ und damit austauschen zu lassen. Etwaigen weiteren auf die Entfernung von Geschäftsführern gerichteten Verfahren von Betriebsräten hat das LAG Hamm damit eine klare Absage erteilt.
Die Entscheidung zeigt aber gleichzeitig, dass die Frage, wann ein (Fremd-)Geschäftsführer Arbeitnehmer im Sinne einer Rechtsnorm ist, auch in Zukunft Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen sein wird. An dem weiteren Auseinanderfallen der Arbeitnehmerbegriffe wird sich voraussichtlich auch durch die eventuelle Verabschiedung des neuen § 611a BGB-E und der darin enthaltenen Legaldefinition des Arbeitnehmerbegriffs nichts ändern.
Denn nach der Begründung des Gesetzesentwurfs sollen von der Legaldefinition Rechtsvorschriften unberührt bleiben, die eine abweichende Definition des Arbeitnehmers vorsehen, um einen engeren oder weiteren Geltungsbereich der Rechtsvorschriften festzulegen. Sowohl der nationale als auch der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff werden daher auch in Zukunft für manch spannende Diskussion sorgen.
Vertiefungshinweise:
Zur Frage der in der Regel nicht gegebenen Arbeitnehmer-Eigenschaft von Vorstandsmitgliedern siehe Kliemt, Altersgrenzen für Vorstandsmitglieder – noch rechtskonform?, RdA 2015, 232 ff.
Zur Frage, wann (Fremd-)Geschäftsführer Arbeitnehmer sind, siehe bereits der Blogbeitrag von Dr. Frank Zaumseil „Sind Geschäftsführer Arbeitnehmer?“ anlässlich der sog. Balkaya-Entscheidung des EuGH.