Das Bundesverfassungsgericht stellt das seit 2015 geltende Tarifeinheitsgesetz auf die Probe. Nachdem ein Eilantrag gegen das Gesetz im Jahr 2015 noch gescheitert war, verhandelte das Gericht nun am 24. und 25. Januar 2017 über die Verfassungsbeschwerde.
Eine Reihe von Spartengewerkschaften sehen in dem Gesetz einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit des Art. 9 GG.
2010: Anordnung der Tarifpluralität durch das BAG
Mit dem – heftig umstrittenen – Tarifeinheitsgesetz sollte der zwischenzeitlich herrschende Zustand der Tarifpluralität im Betrieb beseitigt werden, und wieder Ordnung in der betrieblichen Tariflandschaft geschaffen werden. Auslöser des Gesetzes waren vor allem Streiks von Spartengewerkschaften – wie der Lokführergewerkschaft GDL oder der Pilotenvereinigung Cockpit – die gemeinhin von weiten Teilen der Öffentlichkeit als unfair bewertet worden waren, verfügen doch diese Berufsgruppen über deutlich mehr Einfluss auf die Funktionsfähigkeit verkehrswichtiger Einrichtungen als etwa Schaffner oder Bedienstete von Speisewagen.
Das Tarifeinheitsgesetz setzt nun (wieder) den Grundsatz durch, dass in einem Betrieb nur einer, nämlich der speziellste Tarifvertrag gilt – wie dies bis zur Entscheidung des 4. Senats des BAG vom 7. Juli 2010 (4 AZR 549/08) Jahrzehnte der Fall gewesen war. Damit herrscht nicht mehr Tarifpluralität bei mehreren Arbeitsverhältnissen derselben Art.
2015: Wiederherstellung der Tarifeinheit durch den Gesetzgeber
Um Tarifeinheit im Betrieb zu schaffen, führte das Tarifeinheitsgesetz das Mehrheitsprinzip ein: Im Falle einer Kollision von Tarifnormen ist danach nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft anwendbar; dieser kann dann per Anschlusstarifvertrag von den kleineren Gewerkschaften übernommen werden.
Kritisiert wurden nicht nur der dadurch befeuerte Wettlauf um Mitglieder und der absehbare Streit um deren Anzahl im maßgeblichen Zeitpunkt. Kritisiert wurde vor allem, dass dadurch die Koalitionsfreiheit der kleineren Spartengewerkschaften massiv beeinträchtigt werde, weil diese für Mitglieder kaum mehr autonome Interessen durchsetzen können.
Ob dieser Eingriff durch das Interesse gerechtfertigt sein kann, Streiks zu vermeiden, hat nun das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden.
2017: Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht?
Nach Presseberichten soll der Ausgang des Verfahrens offen sein, eine Einschätzung, die von der Äußerung des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, getragen wird, der Gesetzgeber habe juristisches „Neuland“ betreten.Vor allem müssten „zahlreiche neue und komplizierte Rechtsfragen“ geklärt werden, um die Auswirkungen des Mehrheitsprinzips auf die Durchsetzung von Tarifbedingungen und die Attraktivität der Spartengewerkschaften für Mitglieder im Einzelnen beurteilen zu können.
Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht andere, die Koalitionsfreiheit weniger belastende Mittel des Gesetzgebers zur Durchsetzung seiner Ziele identifiziert, sei es durch das Streikrecht als solches (das stets eine angemessene Streikmaßnahme verlangt), sei es durch eine im Vergleich zum Mehrheitsprinzip mildere Beschränkung des Streikrechts in Branchen und Zeiten, die für das öffentliche Leben besonders bedeutsam sind.
So aber bleibt das Tarifrecht ein besonders „heißes Eisen“, an das sich der Gesetzgeber über Jahre nicht herangewagt hat, um sich die Finger nicht zu verbrennen. Man könnte den Eindruck haben, im Falle des Tarifeinheitsgesetzes hat er sie sich verbrannt.