Die Kündigung schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Arbeitnehmer unterliegt besonderen „Spielregeln“. Eine solche Kündigung ist nichtig, wenn ihr das Integrationsamt nicht vor Ausspruch zugestimmt hat. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Arbeitgeber Kenntnis von dem Sonderkündigungsschutz hatte. Es reicht aus, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber nach Ausspruch der Kündigung informiert. Dabei kann es für den Arbeitnehmer von Vorteil sein, die Mitteilung hinauszuzögern, damit z.B. eine erneute Kündigung erst zu einem späteren Kündigungstermin wirksam werden kann. Aber Vorsicht: Der Sonderkündigungsschutz kann verwirken. Wann dies der Fall ist, hat das BAG in einem aktuellen Urteil konkretisiert.
Sonderkündigungsschutz trotz Unkenntnis des Arbeitgebers
Der Sonderkündigungsschutz schwerbehinderter Menschen ist in § 85 ff. SGB IX geregelt. Danach bedarf die Kündigung durch den Arbeitgeber zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Die besonderen Schutzinteressen schwerbehinderter Menschen sollen bereits im Vorfeld der Kündigung Beachtung finden. Der Sonderkündigungsschutz tritt neben alle übrigen vertraglichen und gesetzlichen Voraussetzungen für eine wirksame Kündigung. Er gilt nicht nur für schwerbehinderte Menschen. Vielmehr sind auch gleichgestellte Arbeitnehmer erfasst. Was viele Arbeitgeber nicht wissen: Das Integrationsamt muss nicht nur eingeschaltet werden, wenn die Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung im Zeitpunkt der Kündigung bereits durch einen entsprechenden Bescheid anerkannt ist. Vielmehr reicht es aus, dass der Arbeitnehmer mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung bei der zuständigen Behörde gestellt hat (§ 90 Abs. 2a SGB IX). Auf die Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung bzw. der entsprechenden Antragsstellung bei Ausspruch der Kündigung kommt es grundsätzlich nicht an. Die Kündigung ist auch dann nichtig, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber erst nachträglich informiert. Für diese nachträgliche Mitteilung regelt das Gesetz keine Frist. Das BAG hat jedoch erkannt, dass es eine zeitliche Grenze für die Mitteilung geben muss, um unbillige (wirtschaftliche) Nachteile für den Arbeitgeber zu vermeiden.
Welche Frist gilt für die nachträgliche Mitteilung?
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG verwirkt der Sonderkündigungsschutz, wenn sich der Arbeitnehmer nicht innerhalb einer „angemessenen Frist“ nach Zugang der (ordentlichen oder außerordentlichen) Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber auf seine anerkannte oder zur Anerkennung beantragte Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung beruft. Doch was ist unter einer „angemessenen Frist“ zu verstehen?
Ursprünglich ist das BAG von einer Regelfrist von drei Wochen ausgegangen, innerhalb derer die Mitteilung an den Arbeitgeber erfolgen musste (BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 864/06). Später hat das BAG diese Frist jedoch zugunsten des Arbeitnehmers aufgeweicht. Die Mitteilung musste nun nicht mehr zwingend innerhalb der Drei-Wochen-Frist beim Arbeitgeber eingehen. Vielmehr reichte es aus, dass die Berufung auf die Schwerbehinderung „zugleich“ mit der Zustellung der fristgerecht erhobenen Kündigungsschutzklage an den Arbeitgeber erfolgte (BAG v. 23.2.2010 – 2 AZR 659/08; BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 347/14). Eine Kündigungsschutzklage ist fristgerecht erhoben, wenn sie innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht eingeht (§ 4 Satz 1 KSchG). Die Zustellung der Klage an den Arbeitgeber durch das Arbeitsgericht muss dann lediglich „demnächst“ erfolgen (§ 167 ZPO). Verzögerungen der Klagezustellung durch das Arbeitsgericht gehen dabei nicht zulasten des Arbeitnehmers. Selbst eine mehrmonatige Verzögerung der Zustellung kann unschädlich sein (BAG v. 10.4.2014 – 2 AZR 741/13).
Mit Blick auf diese Rechtsprechung haben sich Arbeitnehmer in der Vergangenheit häufig allein in der Kündigungsschutzklage auf ihren Sonderkündigungsschutz berufen. Abhängig vom Zeitpunkt der Klagezustellung hat der Arbeitgeber teilweise erheblich später von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung bzw. entsprechenden Antragsstellung erfahren als dies bei einer unmittelbaren außergerichtlichen Mitteilung der Fall gewesen wäre. Eine erneute Kündigung unter Beteiligung des Integrationsamts ist dann oftmals erst zu einem späteren Kündigungstermin erfolgt.
Einschränkung durch das BAG
In einem aktuellen Urteil hat sich das BAG nochmals mit den Grundsätzen der Verwirkung befasst und die bisherige Rechtsprechung zugunsten des Arbeitgebers eingeschränkt (BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 700/15).
Als Maßstab ist nun von einer Drei-Wochen-Frist auszugehen, innerhalb derer sich der Arbeitnehmer entscheiden muss, ob er sich auf seine Schwerbehinderteneigenschaft berufen möchte (Entscheidungsfrist). Hinzuzurechnen ist sodann die Zeitspanne, innerhalb derer der Arbeitnehmer den Zugang der Mitteilung über den bestehenden Sonderkündigungsschutz beim Arbeitgeber zu bewirken hat (Zustellungsfrist). Hierbei darf es dem Arbeitnehmer nicht zum Nachteil gereichen, wenn er – etwa zu Beweiszwecken – eine schriftliche Information wählt. Es gilt damit keine starre Grenze von drei Wochen, innerhalb derer der Arbeitgeber informiert sein muss. Andererseits reicht es jedoch nicht aus, wenn der Arbeitnehmer seine Schwerbehinderung allein in der bei Gericht eingereichten Klageschrift mitteilt und die Zustellung außerhalb der für eine unmittelbare Übermittlung an den Arbeitgeber zuzugestehenden Zeitspanne erfolgt. Welche Zeitspanne noch als angemessen anzusehen ist, um den Zugang der Information beim Arbeitgeber zu bewirken, hat das BAG dabei nicht bestimmt. Es dürfte sich jedoch (allenfalls) um eine Zeitspanne von wenigen Tagen handeln. In dem zugrundeliegenden Fall hatte der Arbeitgeber die schriftliche Mitteilung des Arbeitnehmers am 22. Tag nach Zugang der Kündigung, d.h. einen Tag nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist, erhalten. Dies ließ das BAG genügen.
Fazit
Bei der Kündigung schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Arbeitnehmer gilt die Faustformel „drei Wochen vor – drei Wochen nach“. So greift der Sonderkündigungsschutz bereits ein, wenn die Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung beantragt worden ist („drei Wochen vor“). Der Arbeitgeber muss bei Ausspruch der Kündigung keine Kenntnis vom Sonderkündigungsschutz haben. Der Arbeitnehmer muss ihn jedoch rechtzeitig nachträglich informieren. Im Grundsatz gilt hier eine Frist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung („drei Wochen nach“). Um wie viele Tage diese Frist gegebenenfalls zu verlängern ist, hat das BAG nicht abschließend festgelegt. Insofern ist es ratsam, sich vorsorglich bei jeder Überschreitung der Drei-Wochen-Frist auf eine Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes zu berufen. Auf diese Weise kann möglicherweise auch zeitnah eine Klärung durch das BAG herbeigeführt werden.
Zu den praxisrelevanten Änderungen im Schwerbehindertenrecht durch das neue Bundesteilhabegesetz vgl. den Beitrag „NEU! Änderungen im Recht der Schwerbehindertenvertretung insb. bei Kündigung“ vom 18. Januar 2017 von Rechtsanwältin Dr. Alexa Paehler LL.M.
„Vielmehr reicht es aus, dass der Arbeitnehmer mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung bei der zuständigen Behörde gestellt hat (§ 90 Abs. 2a SGB IX)“
Der § 90 Abs. 2a SGB IX existiert erst wieder ab 1.1.2020!
In der Zwischenzeit findet sich das Kapitel 4 zum Kündigungsschutz aktuell in §§168-175 SGB IX.
Allerdings sehe ich dort auch nur §173 Abs. 3, der keinerlei Aussage zu einer dreiwöchigen Frist zwischen Antragstellung und Einsetzen des Sonderkündigungsschutzes belegt.
Können Sie das bitte nochmal exakt belegen, woher diese 21-Tage-Frist abgeleitet und wie sie definiert ist?
Merci und beste Grüße
Sehr geehrter Herr Stelzer,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Der Blogbeitrag stammt vom 26. April 2017. Zu dieser Zeit war der Sonderkündigungsschutz – wie ausgeführt – noch in §§ 85 ff. SGB IX geregelt. Die dreiwöchige Frist zwischen Antragstellung und Zugang der Kündigung ergibt sich aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Regelung des § 90 Abs. 2a SGB IX (nunmehr § 173 Abs. 3 SGB IX). Insofern verweisen wir beispielhaft auf das Urteil des BAG v. 1.3.2007 (Az.: 2 AZR 217/06).
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Team von Arbeitsrecht. Weltweit