§ 3 BetrVG eröffnet die Möglichkeit, die Organisation der Betriebsverfassung durch Tarifvertrag abweichend vom Gesetz zu gestalten. Solche Organisationstarifverträge sind mittlerweile integraler Bestandteil der betriebsverfassungsrechtlichen Praxis. Häufiger Anwendungsfall ist die Zusammenfassung der im Bundesgebiet verteilten Filialen und Verkaufsstellen größerer Unternehmen zu regionalen Verkaufsbezirken. Diese bilden dann Betriebe im Sinne der tariflich gewillkürten Betriebsverfassung. Wird in einem solchen Fall nach Abschluss des Tarifvertrags eine Filiale durch den Arbeitgeber organisatorisch aus einem Betrieb herausgenommen und zugleich einem anderen Betrieb zugeordnet, so stellt sich die Frage, ob diese Maßnahme in Bezug auf die Filialmitarbeiter eine Versetzung im Sinne des § 99 Abs. 1 BetrVG darstellt. Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 27.1.2017 – 6 TaBV 60/16) hat diese Frage kürzlich entschieden – und mit überzeugender Begründung verneint.
Worum ging es?
Die einzelnen Filialen der Arbeitgeberin, ein großes deutsches Kreditinstitut, waren auf der Grundlage eines Organisationstarifvertrags bundesweit zu vier Vertriebsdirektionen zusammengefasst. Die Vertriebsdirektionen wurden jeweils von einem Vertriebsdirektor geleitet. Die Zuordnung ergab sich aus einer im Tarifvertrag in Bezug genommenen Anlage, in der die einzelnen Filialen in vier Tabellen jeweils mit einer der vier Vertriebsdirektionen verknüpft waren.
Nach Abschluss des Tarifvertrags ergaben sich im Laufe der Jahre im „normalen“ Geschäftsgang der Arbeitgeberin vereinzelte Änderungen im Filialnetz. So kam es zur Schließung einzelner Filialen, denen wiederum Neueröffnungen an anderer Stelle gegenüberstanden. Diese übliche Entwicklung voraussehend, hatten die Tarifvertragsparteien für solche Zuordnungsänderungen bereits bestimmt, dass in diesem Fall die Anlage zum Tarifvertrag zu ändern sei. Die Änderung war nach dem Inhalt des Tarifvertrags allerdings kein konstitutives Wirksamkeitserfordernis für die Zuordnung der jeweiligen Filiale zur Vertriebsdirektion.
Um vor dem Hintergrund solcher Änderungen im Filialnetz ein ausgewogenes Größenverhältnis der Vertriebsdirektionen zueinander beizubehalten, mussten auch einzelne Filialen aus einer Vertriebsdirektion herausgenommen und einer anderen Vertriebsdirektion zugeordnet werden. In dieser Zuordnungsänderung sah der Betriebsrat der abgebenden Vertriebsdirektion eine Verletzung seines Mitbestimmungsrechts aus § 99 BetrVG. Die Zuordnungsänderung der Filialen sei eine Versetzung der einzelnen Filialmitarbeiter. Denn – so der Betriebsrat – die Mitarbeiter würden infolge der Zuordnungsänderung zwangsläufig von einem Betrieb in einem anderen Betrieb wechseln.
Hiervon ausgehend beantragte der Betriebsrat beim Arbeitsgericht nach § 101 Satz 1 BetrVG, der Arbeitgeberin aufzugeben, die einzelnen Versetzungen aufzuheben. Das ArbG und nunmehr auch das LAG wiesen die Anträge zurück.
Grundsätze der Mitbestimmung des Betriebsrats bei Versetzungen
In Unternehmen mit regelmäßig mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 1 BetrVG vor jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung eines Mitarbeiters die Zustimmung des Betriebsrats einzuholen. Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung, so muss er seine Zustimmungsverweigerung innerhalb einer Woche schriftlich begründen. Unterlässt der Arbeitgeber die Einholung der Zustimmung, so kann der Betriebsrat nach § 101 Satz 1 BetrVG beim Arbeitsgericht beantragen, dem Arbeitgeber aufzugeben, die jeweilige personelle Maßnahme aufzuheben. Versetzung ist nach § 93 Abs. 3 Satz 1 BetrVG die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs, die voraussichtlich die Dauer von einem Monat überschreitet, oder die mit einer erheblichen Änderung der Umstände verbunden ist, unter denen die Arbeit zu leisten ist.
Die Entscheidung des LAG
Vor dem Hintergrund dieser Gesetzeslage stand beim LAG nunmehr die Frage auf dem Prüfstand, ob alleine die Zuordnung einer Filiale zu einem anderen Betrieb zugleich eine Versetzung der Filialmitarbeiter darstellt. Das LAG verneinte diese Frage mit einer ausführlichen Begründung.
In einem ersten Schritt setzte es sich präzise mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Begriff der „Versetzung“ auseinander. Ob dessen Voraussetzungen in einer solchen Konstellation erfüllt seien, hänge davon ab, ob den Filialmitarbeitern die Tätigkeit in dem anderen Betrieb tatsächlich vom Arbeitgeber zugewiesen werde. Der Begriff der „Zuweisung“ sei allerdings nicht im Gesetz definiert. Das LAG stellte daher auf den Zweck des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats ab. Dieser bestehe in der Wahrung sowohl der Interessen des betroffenen einzelnen Arbeitnehmers als auch der kollektiven Interessen der Belegschaft. Das Mitbestimmungsrecht schränke die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers bei personellen Einzelmaßnahmen ein. Es bedürfe daher einer auf die einzelnen Mitarbeiter gerichteten Entscheidung des Arbeitgebers. Sei die Änderung des Arbeitsbereichs der Mitarbeiter hingegen nicht Folge einer Entscheidung des Arbeitgebers, sondern die automatische Folge einer Maßnahme, so liege keine „Zuweisung“ vor. Änderungen in der Betriebsstruktur – wie die Zuordnung einer Filiale zu einem anderen Betrieb – seien daher keine unter § 99 BetrVG fallenden Maßnahmen.
In einem zweiten Schritt verwies das LAG zur Begründung auf andere vergleichbare Konstellationen, bei denen keine Versetzungen vorliegen, obwohl es zu Änderungen in der Betriebsstruktur komme. Dementsprechend beinhalte beispielsweise weder die Zuteilung eines Betriebsteils zu einer anderen Leitungsstelle noch die Zusammenlegung von Betrieben oder ein Betriebsübergang automatisch eine nach § 99 BetrVG mitzubestimmende Versetzung. Erst wenn die Änderung des Arbeitsbereichs nicht allein auf der Änderung der Betriebsstruktur, sondern auf einer zusätzlichen Anordnung oder sonstigen Initiative des Arbeitgebers beruhe, liege die Zuweisung eines neuen Arbeitsbereichs und damit aus Sicht des abgebenden Betriebs eine Versetzung vor.
In einem dritten Schritt betonte das LAG das dynamisch-funktionale, an die jeweiligen Vertriebsdirektionen anknüpfende Verständnis des zugrunde liegenden Organisationstarifvertrags. Dieser sehe ausdrücklich die Möglichkeit einer einseitigen Änderung der organisatorischen Zuordnung von Filialen durch die Arbeitgeberin vor. Der entsprechenden Ergänzung der Anlagen zum Tarifvertrag komme hiernach keine konstitutive Wirkung zu.
Fazit und Empfehlung für die Praxis
Die Entscheidung des LAG Düsseldorf ist zu begrüßen. Ihre Begründung ist zutreffend; das Ergebnis praxisgerecht. Den Mitarbeitern einer bloß „umgehängten“ Filiale werden keine anderen Arbeitsbereiche zugewiesen. Erst wenn in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Anordnung oder sonstige „arbeitsbezogene“ Initiative des Arbeitgebers erfolgt, liegt die Zuweisung eines neuen Arbeitsbereichs und damit aus Sicht des abgebenden Betriebs eine Versetzung bzw. aus Sicht des aufnehmenden Betriebs eine Einstellung vor. Solange dies aber, wie in der zugrunde liegenden Entscheidung, nicht der Fall ist, ist eine Beteiligung der Betriebsräte nach § 99 Abs. 1 BetrVG nicht geboten. Damit wiederum erspart sich der Arbeitgeber den unnötigen „Hase-und-Igel-Wettlauf“ eines ggf. nachfolgenden gerichtlichen Zustimmungsersetzungsverfahrens; insbesondere dann, wenn die Betriebspartner ohnehin „über Kreuz“ liegen.
Der Praxis ist in vergleichbaren Konstellationen zu empfehlen, beim Abschluss von Tarifverträgen nach § 3 Abs. 1 BetrVG nicht nur statisch einen bestimmten Zustand der Organisationsstruktur festzuschreiben, sondern bereits bei der tariflichen Regelung die Möglichkeit späterer Veränderungen der Strukturen zu berücksichtigen. Anderenfalls läuft der Tarifvertrag Gefahr, bei jeder wesentlichen Änderung der Organisation, die dem Arbeitgeber als solche nicht verboten ist, sein Substrat zu verlieren (vgl. BAG vom 21.9.2011 – 7 ABR 54/10)
Abzuwarten bleibt, wie sich das Bundesarbeitsgericht positionieren wird. Das LAG hat die grundsätzliche Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen bejaht und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Sie ist unter dem Aktenzeichen 7 ABR 29/17 beim Bundesarbeitsgericht anhängig. Ein Termin ist noch nicht bestimmt.
Näheres zu einzelnen Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationstarifverträgen nach § 3 BetrVG bei Teusch, NZA 2007, 124.
Zur (Un-)Zulässigkeit der Ausweitung des Katalogs der in § 99 Abs. 2 Ziffern 1–6 BetrVG normierten Verweigerungsgründe siehe den Beitrag in diesem Blog vom 20. Februar 2017 von Peter Hoppenstädt.