Mit der Einführung von flexibler Arbeitszeit bringt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Vertrauen entgegen, dass dieser seine Arbeitszeit verantwortungsbewusst gestaltet. Wenn der Arbeitnehmer dieses Vertrauen durch den Aufbau von Minusstunden, deren Anzahl den vorgegebenen Rahmen sprengt, verletzt, kann nach einer aktuellen Entscheidung des LAG Hamburg (Urteil vom 02.11.2016 – 5 Sa 19/16) eine außerordentliche Kündigung – auch bei langer Betriebszugehörigkeit – gerechtfertigt sein. Denn lange Betriebszugehörigkeitszeiten führen nicht zwingend zum Aufbau von „Vertrauenskapital“.
Was war passiert?
Der 1974 geborene Arbeitnehmer war seit 1993 bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Auf sein Arbeitsverhältnis fand eine Dienstvereinbarung zu flexibler Arbeitszeit Anwendung. In dieser Dienstvereinbarung war unter anderem geregelt, dass ein Zeitsaldo von mehr als 20 Minusstunden – also jenseits der dort sogenannten Grünphase – grundsätzlich nicht möglich sei. Bei einer Überschreitung der Grünphase trügen der Vorgesetzte und der Arbeitnehmer gemeinsam Sorge dafür, das Zeitkonto innerhalb eines Monats wieder in die Grünphase zurückzuführen.
Seit 2007 wurde der Arbeitnehmer mehrfach abgemahnt und ermahnt. Die erste Abmahnung aus dem Jahr 2007 bezog sich auf die private Nutzung dienstlicher Zeit. Abmahnungen aus den Jahren 2012 und 2013 thematisierten mehrfache Verstöße gegen die Gleitzeit wegen verspätetem Dienstbeginn oder verfrühtem Dienstende.
Nachdem das Arbeitszeitkonto des Arbeitnehmers im Oktober 2014 das erste Mal die Grünphase verlassen und sein Vorgesetzter mit ihm ein entsprechendes Gespräch geführt hatte, wies es Ende März 2015 erneut ein Minussaldo außerhalb der Grünphase (ca. 22,5 Stunden) auf. Die Ermahnung, Minusstunden abzubauen, hatte keinen Erfolg, vielmehr verdoppelte sich das Minussaldo innerhalb des folgenden Monats. Auch weitere Ermahnungen und Gespräche brachten keine Besserung: nach einem stetigen Anstieg erreichte das Arbeitszeitkonto Mitte Juni 2015 einen Stand von 59 Minusstunden. Darauf reagierte die Arbeitgeberin schließlich mit einer außerordentlichen Kündigung gemäß § 626 BGB.
Übermäßiger Aufbau von Minusstunden als wichtiger Grund für eine Kündigung
Nachdem das Arbeitsgericht Hamburg in erster Instanz noch bezweifelt hatte, ob im Aufbau von Minusstunden ein wichtiger Grund für eine Kündigung gesehen werden könne, da die Dienstvereinbarung eine gemeinsame Verantwortung des Arbeitnehmers und des Vorgesetzten beim Abbau der Minusstunden vorsah, beurteilte das LAG Hamburg die Verletzung der Vorgaben zu den Minusstunden eindeutig als einen wichtigen Grund zur Kündigung. Der Arbeitnehmer habe trotz der Ermahnungen des Vorgesetzten seine Minusstunden in Verletzung der Dienstvereinbarung nicht abgebaut und somit seine Arbeitsleistung nicht im Rahmen des von der Arbeitgeberin ausgeübten Weisungsrechts erbracht. Darin liege eine Verletzung seiner Hauptleistungspflicht, die einen wichtigen Grund für eine Kündigung begründe.
Keine Abmahnung erforderlich
Eine weitere Abmahnung war in diesem Fall nach Ansicht des LAG Hamburg nicht mehr erforderlich. Die Abmahnungen aus den Jahren 2012 und 2013 zu den Verstößen gegen den Gleitzeitrahmen seien einschlägig und die Reaktion des Arbeitnehmers darauf hätte bewiesen, dass er Abmahnungen nicht ernst nehme. Zwar thematisierten diese Abmahnungen nicht den übermäßigen Aufbau von Minusstunden, sie betrafen aber ebenso einen Verstoß gegen die Arbeitszeitweisungen der Arbeitgeberin. Dem Arbeitnehmer wurde folglich durch sie deutlich gemacht, dass die Arbeitgeberin die eigenmächtige Gestaltung Arbeitszeit durch den Arbeitnehmer nicht hinnehmen würde.
Interessenabwägung – Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit bei Störungen im Arbeitsverhältnis
Vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 BGB ist eine Interessenabwägung durchzuführen. Hierbei war zunächst die Betriebszugehörigkeit des Klägers von 22 Jahren zu bewerten. Im Laufe eines beanstandungsfrei bestehenden Arbeitsverhältnisses wird ein wachsender Vorrat an Vertrauen aufgebaut, der bei der Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen ist (vgl. insbesondere die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Sachen „Emmely“; vgl. zur Betriebszugehörigkeitszeit und Erschütterung des Vertrauens auch den Blogbeitrag von Sebastian Bröckner). Das LAG Hamburg machte allerdings sehr deutlich, dass das in der Zeit von 1993 bis 2007 vom Arbeitnehmer erworbene Vertrauen in seine ordnungsgemäße Vertragserfüllung durch die große Anzahl an Abmahnungen und Ermahnungen seit 2007 derart beschädigt wurde, dass es kaum noch zu berücksichtigen war. Die vielen Abmahnungen und Ermahnungen seien trotz der unterschiedlichen Themen (Verstöße gegen Gleitzeitordnung, fehlende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Selbstbefreiung vom Außendienst, Unzuverlässigkeit beim Schreiben von Berichten) geeignet, das Bild von einem Arbeitnehmer zu zeichnen, der keine Leistungsbereitschaft mehr aufweist, seine eigenen Regeln setzt und dementsprechend nicht mehr vertrauenswürdig sei.
Das LAG Hamburg stellte im Ergebnis fest, dass es der Arbeitgeberin unzumutbar sei, einen Arbeitnehmer, der seine „Arbeitszeit nach eigenem Belieben gestaltet und dabei die Regeln trotz Interventionen seiner Vorgesetzten beharrlich missachtet“, weiter zu beschäftigen.
Fazit
Die Entscheidung des LAG Hamburg zeigt, dass lange Betriebszugehörigkeitszeiten bei der Interessenabwägung im Rahmen einer außerordentlichen Kündigung nur effektiv zu Gunsten des Arbeitnehmers wirken, wenn das Arbeitsverhältnis in dieser Zeit nicht durch Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers gestört war. Arbeitgeber sollten daher Pflichtverstöße ihrer Arbeitnehmer sauber dokumentieren und entsprechende Abmahnungen und Ermahnungen aussprechen.