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Mitbestimmung

Update: Deutsche Unternehmensmitbestimmung ist europarechtskonform!

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Unternehmensmitbestimmung

In unseren Blogbeiträgen vom 24. März 2016, 13. Dezember 2016 und 24. Januar 2017 hatten wir bereits darüber berichtet, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die deutsche Unternehmensmitbestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Europarecht überprüfen wird. Im Fokus stand einerseits die Frage, ob der Ausschluss der aktiven und passiven Wahlberechtigung von Beschäftigten deutscher Unternehmen im EU-Ausland bei den Aufsichtsratswahlen europarechtswidrig ist und andererseits, ob im EU-Ausland beschäftigte Arbeitnehmer bei der Berechnung der Schwellenwerte zur Wahl eines Aufsichtsrats zu berücksichtigen sind. Der EuGH hat über die erste Frage nunmehr am 18. Juli 2017 in der Rechtssache C – 566/15 (Konrad Erzberger/TUI AG) entschieden und die Vereinbarkeit der deutschen Unternehmensmitbestimmung mit dem Europarecht festgestellt.

EuGH bestätigt Auffassung des Generalanwalts

Die Entscheidung hatte sich in den vergangenen Monaten angedeutet. So hatte bereits der Generalanwalt beim EuGH in seinen Schlussanträgen vom 4. Mai 2017 weder einen Verstoß gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer noch gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit angenommen. Auch wenn der EuGH nicht an die Schlussanträge des Generalanwalts gebunden ist, schließt er sich ihnen oftmals an. So war es auch im vorliegenden Fall. Konkret hat der EuGH entschieden, dass der Ausschluss der außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstößt.

Statusverfahren betreffend die TUI AG

Der vom EuGH entschiedene Fall betraf die TUI AG. Ein Anteilseigner hatte sich vor den deutschen Gerichten im Wege eines aktienrechtlichen Statusverfahrens gemäß § 98 AktG gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaft gewandt. Er machte geltend, dass das deutsche Mitbestimmungsgesetz, nach dem nur den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern das aktive und passive Wahlrecht für die Arbeitnehmervertreter des Aufsichtsrats zustehe, das Unionsrecht verletze. Dass die bei einer Tochtergesellschaft des TUI-Konzerns in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer, welche in der Regel keine deutschen Staatsangehörigen seien, nicht an der Zusammensetzung des Aufsichtsrats der TUI AG mitwirken dürften, verstoße gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV. Ferner sei der Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat bei einer Versetzung in einen anderen Mitgliedsstaat geeignet, die Arbeitnehmer davon abzuhalten, von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV Gebrauch zu machen.

Vorlage des Berliner Kammergerichts

Das Berliner Kammergericht (Beschluss vom 16.10.2015 – 14 W 89/15) legte dem EuGH im Oktober 2015 die Frage zur Entscheidung vor, ob es mit dem Verbot der Diskriminierung gemäß Art. 18 AEUV und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV vereinbar sei, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind.

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Entscheidung des EuGH vom 18. Juli 2017

Der EuGH hält das deutsche Mitbestimmungsgesetz in dieser konkreten Fragestellung mit dem Unionsrecht für vereinbar. Dabei hat er zwischen zwei Fallgruppen unterschieden: Einerseits die dauerhaft bei einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer des TUI-Konzerns und andererseits die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer des TUI-Konzerns, die ihre Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft anzutreten.

Im EU-Ausland beschäftigte Arbeitnehmer: kein Fall der Freizügigkeit

Im Hinblick auf die im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmer des TUI-Konzerns stellte der EuGH fest, dass ihre Situation nicht anhand des allgemeinen Verbots der Diskriminierung gemäß Art. 18 AEUV zu prüfen sei. Art. 18 AEUV, in dem der allgemeine Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist, komme eigenständig nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung, für die der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsehe. Die Bestimmungen über die Freizügigkeit sehen aber in Art. 45 Abs. 2 AEUV zugunsten der Arbeitnehmer ein besonderes Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit für den Bereich der Arbeitsbedingungen vor. Allerdings seien die Bestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben oder Gebrauch machen wollten. Die Situation der dauerhaft in einer Tochtergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer falle daher nicht unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Der Umstand, dass die Tochtergesellschaft, bei der die betreffenden Arbeitnehmer tätig sind, von einer Muttergesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (vorliegend: Deutschland) kontrolliert werde, sei insoweit ohne Bedeutung.

In Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, die ins EU-Ausland wechseln: keine Behinderung der Freizügigkeit

Der EuGH prüfte sodann die Situation der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer, die ihre inländische Stelle aufgeben, um eine Stelle bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft des TUI-Konzerns anzutreten. Insofern stellte das Gericht fest, dass diese Situation grundsätzlich unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer falle. Ihre Situation sei daher nicht anhand des allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu prüfen.

Der Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft sowie gegebenenfalls der Verlust des Rechts auf (weitere) Ausübung eines Aufsichtsratsmandats stellen aber nach Auffassung des EuGH keine Behinderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV dar. Denn die Freizügigkeit garantiere einem Arbeitnehmer nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedsstaat als seinen Herkunftsmitgliedsstaat in sozialer Hinsicht neutral sei. Ein solcher Umzug könne aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und den Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten bestehen, für den betreffenden Arbeitnehmer je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich haben.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV verschaffe einem Arbeitnehmer nicht das Recht, sich im Aufnahmemitgliedsstaat auf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm im Herkunftsmitgliedsstaat nach dessen nationalen Rechtsvorschriften zustanden. Das Unionsrecht hindere einen Mitgliedsstaat nicht daran, im Bereich der kollektiven Vertretung und Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen in den Leitungs- und Aufsichtsorganen einer Gesellschaft nationalen Rechts vorzusehen, dass die von ihm erlassenen Vorschriften nur auf die Arbeitnehmer inländischer Betriebe Anwendung fänden.

Wahlrecht nur für im Inland beschäftigte Arbeitnehmer

Die durch das Mitbestimmungsgesetz eingeführte Mitbestimmung könne Deutschland daher auf die bei inländischen Betrieben tätigen Arbeitnehmern beschränken, sofern eine solche Beschränkung auf einem objektiven und nicht diskriminierenden Grund beruhe. Der Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat nach einer Versetzung in einen anderen Mitgliedstaat sei insoweit die Folge der legitimen Entscheidung Deutschlands, die Anwendung ihrer nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer zu beschränken.

Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass es bei der bisherigen Rechtslage bleibt. Nur die im Inland beschäftigten Arbeitnehmer besitzen hinsichtlich der Zusammensetzung des Aufsichtsrats ihres Arbeitgebers oder des Arbeitgeberkonzerns mit Sitz im Inland das aktive und passive Wahlrecht.

Auswirkungen auf die Berechnung der Schwellenwerte

Auch für die Frage, ob im EU-Ausland beschäftige Arbeitnehmer bei der Berechnung der Schwellenwerte zu berücksichtigen sind, lassen sich aus der Entscheidung des EuGH Rückschlüsse ziehen. So hatte im Februar 2015 das LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 16.2.2015 – 3-16 O 1/14) im Statusverfahren der Deutsche Börse AG entschieden, dass nicht nur im EU-Ausland beschäftigte Mitarbeiter an der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu beteiligen seien, sondern auch, dass diese bei der Bestimmung der Zahl der für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes maßgeblichen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind.

Das OLG Frankfurt am Main hatte als Beschwerdegericht im Juni 2016 (Beschluss vom 17.6.2016 – 21 W 91/15) das Verfahren wegen Vorgreiflichkeit im Hinblick auf die anstehende Entscheidung des EuGH im Verfahren der TUI AG ausgesetzt. Der Senat hielt einen Verstoß gegen Unionsrecht durch die Nichtberücksichtigung der im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmer bei der Berechnung der Schwellenwerte allenfalls dann für denkbar, wenn diesen Arbeitnehmern ein passives Wahlrecht zustünde. Ohne ein passives Wahlrecht begegne die nach den bestehenden Regeln praktizierte Zählweise keinen unionsrechtlichen Bedenken.

Zwar hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2017 nicht unmittelbar darüber entschieden, ob beschäftigte Arbeitnehmer in Betrieben im EU-Ausland bei der Berechnung der Schwellenwerte mitzuzählen sind. Wenn ihnen aber kein aktives oder passives Wahlrecht zusteht, dann besteht auch kein Grund, diese Arbeitnehmer bei den Schwellenwerten zu berücksichtigen. Somit dürfte auch die Nichtberücksichtigung von im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmern bei der Berechnung der Schwellenwerte zur Wahl eines Aufsichtsrats europarechtskonform sein.

Fazit

Obwohl die Entscheidung des EuGH lediglich zum Mitbestimmungsgesetz ergangen ist, sind die aufgestellten Grundsätze auch auf das Drittelbeteiligungsgesetz und das Montan-Mitbestimmungsgesetz übertragbar. Insgesamt können deutsche Unternehmen, die entweder bereits der (paritätischen) Mitbestimmung unterliegen oder aber Mitarbeiter im EU-Ausland beschäftigen, aufatmen. Weder bedarf es bei bereits mitbestimmten Unternehmen einer Wiederholung der Aufsichtsratswahlen noch sind Aufsichtsratswahlen erstmals durchzuführen, wenn die Unternehmen aufgrund der Überschreitung der Schwellenwerte durch die Hinzurechnung von im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmern plötzlich mitbestimmt gewesen wären.

Ferner ist der deutsche Gesetzgeber nicht gehalten, die deutschen Mitbestimmungsgesetze zu novellieren und auch im EU-Ausland beschäftigten Arbeitnehmern ein aktives und passives Wahlrecht in deutschen Aufsichtsratswahlen zu ermöglichen. Die Revolution in der deutschen Unternehmensmitbestimmung bleibt damit – glücklicherweise – aus.

Dr. Alexa Paehler, LL.M.

Rechtsanwältin
Fach­an­wäl­tin für Arbeitsrecht
Principal Counsel
Alexa Paehler berät Arbeitgeber schwerpunktmäßig bei Kün­di­gungs­rechts­strei­tig­kei­ten, zu Organverhältnissen (Geschäfts­füh­rer/Vorstände), kollektivarbeits­recht­li­chen Fragen sowie zu Unter­neh­mens­käufen.
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