Sind betriebsbedingte Kündigungen erforderlich, wird ab einer gewissen Betriebsgröße mit Hilfe der Sozialauswahl bestimmt, wer zu kündigen ist. Gesetzlich vorgesehen ist, dass die Wahl auf den Arbeitnehmer fällt, der unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien (eines davon sein Lebensalter) die geringste Schutzbedürftigkeit aufweist. Im Grundsatz geht mit einem höheren Lebensalter eine größere Schutzbedürftigkeit einher. Ob und ggf. ab wann die Schutzbedürftigkeit mit zunehmendem Alter wieder sinkt, beurteilen die Landesarbeitsgerichte bisher unterschiedlich. Jüngst äußerte sich nun das BAG dazu.
Nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ist die betriebsbedingte Kündigung eines Arbeitnehmers bezogen auf die Sozialauswahl gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers ausreichend berücksichtigt hat. Anhand dieser vier Kriterien und einer anschließenden Gesamtabwägung ermittelt der Arbeitgeber, welche Arbeitnehmer sozial am wenigsten schutzbedürftig sind und spricht die betriebsbedingten Kündigungen entsprechend dieses Ergebnisses aus. Hinsichtlich des Kriteriums des Lebensalters gilt nach der Rechtsprechung des BAG grundsätzlich, dass ältere Arbeitnehmer als schutzbedürftiger gelten, da sie typischerweise schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten (vgl. u.a. BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11). Ob die Schutzbedürftigkeit stetig steigt oder ab einem gewissen Lebensalter wieder absinkt, ist in der Rechtsprechung sehr umstritten.
Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte
Beginnend mit einem Urteil des LAG Niedersachsen (Urteil vom 28.05.2004 – 10 Sa 2180/03) haben einige Landesarbeitsgerichte die Auffassung vertreten, dass die Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers mit zunehmendem Alter zwar zunächst kontinuierlich ansteige, ab einem gewissen Alter allerdings wieder abfalle. Dies soll zumindest der Fall sein, wenn der betroffene Arbeitnehmer finanziell durch Altersteilzeit, den Bezug von Arbeitslosengeld bis zum Renteneintritt oder durch vorgezogene Altersrente abgesichert sei. Die mit diesen Optionen für den Arbeitnehmer einhergehenden finanziellen Nachteile seien nicht entscheidend (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 23.05.2005 – 5 Sa 198/05 und LAG Köln, Urteil vom 17.08.2005 – 7 Sa 520/05). Diesen Erwägungen stellen sich andere Landesarbeitsgerichte entschieden entgegen. Sie sind der Ansicht, dass ein höheres Lebensalter ausschließlich zu Gunsten des betroffenen Arbeitnehmers gewertet werden dürfe. Das in § 1 Abs. 3 KSchG festgeschriebene Kriterium des Alters dürfe nicht aufgrund von wirtschaftlichen, sozialversicherungs- oder versorgungsrechtlichen Überlegungen entwertet werden, die das Kündigungsschutzgesetz nicht kenne (vgl. nur LAG Düsseldorf, Urteil vom 13.07.2005 – 12 Sa 616/05). Das BAG hatte in einer Entscheidung vom 23.07.2015 (6 AZR 457/14) explizit offen gelassen, ob bei der Sozialauswahl die altersbedingte Rentennähe negativ berücksichtigt werden darf.
Entscheidung des BAG
Nun lag dem BAG der Fall eines zum Kündigungszeitpunkt 66 Jahre und 7 Monate alten Arbeitnehmers zur Entscheidung vor, der bereits Regelaltersrente bezog (Urteil vom 27.04.2017 – 2 AZR 67/16). Sein Arbeitgeber hatte ihm gekündigt, da er ihn für sozial weniger schutzwürdig erachtete als seine 35 Jahre alte Kollegin. Das BAG ging in dieser Entscheidung davon aus, dass ein Arbeitnehmer, der bereits Regelaltersrente beziehe oder beziehen könne, hinsichtlich des Auswahlkriteriums Lebensalter „als deutlich weniger schutzbedürftig“ anzusehen sei als ein jüngerer Arbeitnehmer. Zu diesem Ergebnis kam das BAG durch Überlegungen dazu, weshalb das Lebensalter ein Auswahlkriterium bei der Sozialauswahl ist. Zunächst blieb es dabei auf der bekannten Linie und stellte fest, dass es das Ziel dieser Bestimmung sei, Arbeitnehmer, die schlechte Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten zu schützen. Im zweiten Schritt fügte das BAG dem allerdings zwei neue Überlegungen hinzu. Zunächst führte es aus, dass Arbeitnehmer mit schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu schützen seien, um sie davor zu bewahren, dauerhaft oder zeitnah kein „Ersatzeinkommen“ erzielen zu können. Zudem ergänzte es die Erwägung, dass durch den Schutz dieser Arbeitnehmer die Ausgaben für das Arbeitslosengeld und die Beiträge zur Arbeitsförderung gesenkt werden sollten.
Vor diesem Hintergrund seien Arbeitnehmer, die Regelaltersrente beziehen können, wesentlich weniger schutzbedürftig als Arbeitnehmer, denen diese Option nicht offen stünde, denn sie könnten ein „Ersatzeinkommen“ erzielen. Die jüngeren Arbeitnehmer hingegen würden der Gefahr ausgesetzt für längere Zeiträume beschäftigungslos zu bleiben und auf den Bezug von Entgeltersatzleistungen angewiesen zu sein.
Eine gegen EU Recht verstoßende Altersdiskriminierung konnte das BAG in der Annahme der geringeren Schutzwürdigkeit des älteren Arbeitnehmers nicht erkennen. Die Ungleichbehandlung des älteren Arbeitnehmers sei gerechtfertigt, da hiermit „durch eine gerechtere Beschäftigungsverteilung zwischen den Generationen die wirtschaftliche Existenz von Arbeitnehmern gesichert werde“. Die älteren Arbeitnehmer seien durch ihr „Ersatzeinkommen“ ausreichend abgesichert und die jüngeren würden vor potentieller Arbeitslosigkeit, Nachteilen in ihrer Rentenbiographie sowie einem verschlechterten Kündigungsschutz und eventuellen Gehaltseinbußen in einer etwaigen zukünftigen Beschäftigung geschützt.
Fazit
Nach der Entscheidung des BAG herrscht nun zumindest in der Hinsicht Klarheit, dass sich die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern, die Regelaltersrente beziehen oder beziehen können verringert. Rechtsunsicherheit besteht weiterhin bezüglich der Frage, ob auch schon „rentennahe“ Arbeitnehmer hinsichtlich des Auswahlkriteriums „Lebensalter“ als weniger schutzwürdig einzustufen sind als ihre jüngeren Kollegen. Davon ist unter Betrachtung der Argumentationslinie des BAG („Ersatzeinkommen“ und Verringerung der Ausgaben für das Arbeitslosengeld) wohl zumindest dann nicht auszugehen, wenn für den Zeitraum zwischen dem Ende des Arbeitsverhältnisses und dem Beginn des Bezuges der Regelaltersrente Arbeitslosengeld bezogen werden müsste.