Bis vor einigen Jahren bestand noch der Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer im Entleiherbetrieb „zwar wählen, aber nicht zählen“. Diesen Grundsatz hat das BAG erstmals 2011 aufgegeben. Das BAG „zählt“ mittlerweile Leiharbeitnehmer bei der Ermittlung der maßgeblichen Unternehmensgröße nach § 111 Satz 1 BetrVG, der Betriebsratsgröße nach § 9 BetrVG sowie der maßgebenden Betriebsgröße für Freistellungen gem. § 38 BetrVG mit. Diese vom BAG durchgeführte Rechtsprechungsänderung hat der Gesetzgeber nunmehr im Rahmen der AÜG-Reform durch die Neufassung von § 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG kodifiziert. Das BAG konnte mit Beschluss vom 02.08.2017 (7 ABR 51/15) erstmals zur der neuen Regelung Stellung nehmen und bestehende Unklarheiten beseitigen.
Worum ging es?
Die Betriebsparteien stritten um die Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder gem. § 38 BetrVG. Die Arbeitgeberin beschäftigte in der Vergangenheit einschließlich der Leiharbeitnehmer mehr als 500 Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund begehrte der Betriebsrat die Freistellung eines weiteren Betriebsratsmitglieds gem. § 38 BetrVG. Dies lehnte die Arbeitgeberin ab: Nach ihrer Auffassung seien die Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten des § 38 BetrVG nicht mitzuzählen.
Zudem beschäftige sie selbst bei Berücksichtigung der Leiharbeitnehmer in der Regel nicht mindestens 501 Arbeitnehmer, da aufgrund des Auslaufens von zwei Aufträgen und weiteren Maßnahmen mit einem Personalabbau von 80 bis 120 Arbeitsplätzen zu rechnen sei, sodass sie künftig weniger als 501 Arbeitnehmer (einschließlich Leiharbeitnehmer) beschäftige.
Mit dieser Ansicht konnte sich die Arbeitgeberin weder vor dem Arbeitsgericht noch dem Landesarbeitsgericht durchsetzen.
Entscheidung des BAG
Auch vor dem BAG unterlag die Arbeitgeberin. Die Leiharbeitnehmer seien bei der Ermittlung des maßgebenden Schwellenwerts von § 38 BetrVG mitzurechnen. Dies ergebe sich aus der Neuregelung des § 14 Abs. 2 S. 4 AÜG.
§ 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG n.F.
Soweit Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes mit Ausnahme des § 112a, des Europäische Betriebsräte-Gesetzes oder der auf Grund der jeweiligen Gesetze erlassenen Wahlordnungen eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern voraussetzen, sind Leiharbeitnehmer auch im Entleiherbetrieb zu berücksichtigen.
Der Gesetzgeber habe mit der gesetzlichen Neuregelung die Rechtsprechung des BAG zur Berücksichtigung der Leiharbeitnehmer bei betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten wiedergeben wollen. Eine Änderung der bisherigen Rechtslage sei nicht beabsichtigt. Demnach seien Leiharbeitnehmer dem regelmäßigen Personalbestand des Betriebsrats nach § 38 BetrVG hinzuzuzählen, wenn sie der regelmäßigen beschäftigten Zahl angehörten.
- Bei der Ermittlung der regelmäßen beschäftigten Zahl sei nicht auf einen bestimmten Stichtag abzustellen. Die Feststellung der regelmäßigen beschäftigten Zahl erfordere vielmehr eine rückblickende Betrachtung sowie eine künftige Prognose der Personalentwicklung. Für eine rückblickende Betrachtung werde ein Zeitraum zwischen 6 Monaten und 2 Jahren als angemessen erachtet.
- Die künftige Personalentwicklung habe anhand einer konkreten Prognose zu erfolgen. Hierbei dürften künftige Veränderungen der Arbeitnehmerzahl nur dann berücksichtigt werden, wenn eine geplante Personalanpassung „unmittelbar bevorstehe“.
- Werden Arbeitnehmer lediglich zeitweilig beschäftigt, werden sie mitgezählt, wenn sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d.h. länger als sechs Monate im Jahr, beschäftigt werden.
Da die Arbeitgeberin in der Vergangenheit regelmäßig mehr als 501 Arbeitnehmer und Leiharbeitnehmer beschäftigte und sie keinen Personalabbau konkret dargelegt habe, sei der Antrag des Betriebsrats auf Freistellung eines weiteren Betriebsratsmitglieds begründet.
Bewertung
Die Entscheidung des BAG stellt keine Überraschung dar. Auch wenn der Sachverhalt auf den ersten Blick einen „Altfall“ vermuten ließ, wendete das BAG aufgrund des zukunftsbezogenen Antrags § 14 Abs. 2 S. 4 n.F. korrekterweise an. Zugleich stellte das BAG klarstellend fest, dass eine automatische Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern gerade nicht erfolge. Ein derartiges Verständnis lag nach dem Wortlaut von § 14 Abs. 2 S. 4 AÜG durchaus nahe.
Entgegen des Wortlauts sei jedoch auf dem Normzweck der jeweiligen Vorschrift abzustellen. Eine automatische und pauschale Hinzurechnung von Leiharbeitnehmern erfolgt daher nicht. Zugleich stellt das BAG damit klar, dass nicht auf den konkreten Leiharbeitnehmer abgestellt werden könne, sondern die Hinzurechnung arbeitsplatzbezogen erfolgen müsse.
Grundsätzlich zu begrüßen ist zudem die Klarstellung, dass künftige Veränderungen der Arbeitnehmerzahl ebenfalls zu berücksichtigen sind. Allerdings gilt dies nach Ansicht des BAG nur dann, wenn die künftige Personaländerung „unmittelbar bevorstehe“. Durch dieses Kriterium wird klargestellt, dass die Planungen bereits verfestigt und konkretisiert werden müssen. Welches Planungsstadium jedoch erreicht werden muss, bleibt aber weiterhin unklar. Hier bedarf es noch weiterer Konkretisierungen der Rechtsprechung.
Fazit
Das BAG hat durch die Entscheidung für Rechtsklarheit im Hinblick auf die Auslegung von § 14 Abs. 2 S. 4 AÜG gesorgt. Dennoch bleiben weitere Zweifelsfragen offen. Klarzustellen ist, dass § 14 Abs. 2 AÜG ausweislich des Wortlauts für betriebsverfassungsrechtliche Schwellenwerte (einschließlich nach dem Europäischen Betriebsräte-Gesetz) Anwendung findet.
Eine Übertragung auf andere arbeitsrechtliche Schwellenwerte verbietet sich. Insoweit muss die jeweilige Regelung unter Berücksichtigung ihres Normzwecks ausgelegt werden. Offen bleibt daher insbesondere die Frage, ob Leiharbeitnehmer im Rahmen von § 17 KSchG zu berücksichtigen sind. Diese Frage hat das BAG mit Beschluss vom 16.11.2017 (2 AZR 90/17 (A)) dem EuGH zur Klärung vorgelegt. Wir halten Sie hierzu selbstverständlich weiter informiert.