Überstunden sind in Deutschland an der Tagesordnung – und daher ebenso der Streit um ihre Vergütung. Das BAG verlangt, dass ein Arbeitnehmer im Rahmen einer Vergütungsklage für geleistete Überstunden nicht nur darlegt, welche Überstunden er wann erbracht hat, sondern dass diese vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der Arbeit erforderlich waren. Diese zusätzliche Voraussetzung hat das LAG Berlin-Brandenburg in einer Entscheidung vom 28.06.2017 (15 Sa 66/17) angezweifelt und zudem die „Duldung“ konkretisiert. Was folgt daraus für die Praxis?
Was war passiert?
Der Arbeitnehmer war in leitender Funktion tätig und hatte das Arbeitsverhältnis gekündigt. Die Parteien stritten über die Vergütung von Überstunden, wobei im Wesentlichen streitig war, ob die erbrachten Überstunden auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgt waren. Der Arbeitsvertrag sah die Einrichtung eines Arbeitszeitkontos vor, in welches die über die regelmäßige Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitsstunden eingestellt werden.
Der Ausgleich sollte entweder durch bezahlte Freistellung oder eine Vergütung in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns erfolgen. Eine automatische Zeiterfassung der Arbeitszeit – und auch der geleisteten Überstunden – erfolgte nur in den ersten drei Wochen des Arbeitsverhältnisses.
Das Arbeitsgericht hatte die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Arbeitnehmer habe zwar dargelegt, welche Überstunden er abgeleistet habe, nicht aber, dass diese vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt geduldet oder zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung notwendig waren.
Das LAG hat der Berufung des Arbeitnehmers fast vollständig stattgegeben. Insbesondere
- äußerte das LAG Zweifel an der Rechtsprechung des BAG zu den erforderlichen Darlegungen bezüglich der geleisteten Überstunden, ließ diese jedoch dahinstehen, da
- es allein aufgrund der Tatsache, dass der Arbeitgeber dem Zeiterfassungssystem die Ableistung von Überstunden hätte entnehmen können, eine generelle „Duldung“ von Überstunden annahm.
Die Zweifel des LAG an den vom BAG aufgestellten Anforderungen überzeugen nicht – unabhängig davon, dass die Entscheidung im Ergebnis nachvollziehbar ist.
Herr im eigenen Hause – keine „aufgedrängten“ Überstunden?
Leistet ein Arbeitnehmer über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus „Überstunden“, richtet sich die Frage der Vergütungspflicht nach den einschlägigen arbeits- oder kollektivvertraglichen Regelungen. In Ermangelung einer solchen soll bei einem Jahresentgelt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung (derzeit EUR 78.000,00) in der Regel nicht von einer Vergütungspflicht auszugehen sein (BAG v. 27. Juni 2012 – 5 AZR 530/11). Sind Überstunden grundsätzlich vergütungspflichtig, muss der Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des BAG zur Vermeidung einer „Aufdrängung“ von Überstunden zudem darlegen, dass diese vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der Arbeit erforderlich waren (BAG v. 10. April 2013 – 5 AZR 122/12).
An dieser Rechtsprechung hat das LAG unter Verweis auf die Vielzahl von unvergüteten Überstunden in Deutschland (fast eine Milliarde jährlich) Zweifel geäußert. Es sei wenig nachvollziehbar, warum eine Darlegung der geleisteten Überstunden nicht ausreiche, da „Überstundenklagen“ vorwiegend an der Darlegung der Zurechnung, insbesondere durch Duldung des Arbeitgebers, scheitern würden. Die entsprechende Begründung der Vermeidung einer „Aufdrängung“ hält das LAG für nicht überzeugend. Vielmehr sei der Arbeitgeber „Herr im eigenen Betrieb“ und könne daher aufgedrängte Überstunden dadurch vermeiden, dass er die Arbeitnehmer „nach Ableistung der regulären Arbeitszeit nach Hause schicke“. Unterlässt der Arbeitgeber dies, gibt er nach dem LAG zu erkennen, dass ihm die Leistung von Überstunden „egal sei“ und seien ihm diese daher auch zuzurechnen.
Kenntnis = Duldung!
Das LAG nahm jedoch aus zwei Gründen im konkreten Fall eine Duldung der Überstunden durch den Arbeitgeber an, sodass es die vorgenannten Zweifel dahinstehen lassen konnte:
Bereits aus dem Einwand des Arbeitgebers, sämtliche Führungskräfte im Betrieb würden regelmäßig Überstunden ohne Mehrvergütung leisten, leitete das LAG eine Duldung der Überstunden her. Gleiches, so das LAG, folge aus den in den ersten drei Wochen des Arbeitsverhältnisses in das elektronische Zeiterfassungssystem eingestellten Überstunden.
Ob der Arbeitgeber die eingestellten Daten auch tatsächlich zur Kenntnis genommen habe, sei unerheblich. Es könne ihm vielmehr nicht zugute kommen, wenn er seine interne Informationsgewinnung möglicherweise vorsätzlich oder fahrlässig so organisiert, dass die Daten zur Arbeitszeiterfassung nicht zur Kenntnis genommen werden. Dies folge auch aus einer zu ziehenden Parallele zu der Pflicht des Arbeitgebers zur Aufzeichnung von über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeiten gem. § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG. Insoweit sei eine mangelnde Auswertung der elektronisch erfassten Arbeitszeitdaten zur Begründung eines fahrlässigen Verstoßes gegen die Aufzeichnungspflicht geeignet.
Bewertung und Praxisfolgen
Die Rechtsprechung des BAG ist durch die Ausführungen des LAG rechtsdogmatisch nicht ernsthaft ins Wanken geraten: Ohne das Erfordernis einer Zurechnung geleisteter Überstunden zum Arbeitgeber, etwa durch dessen Duldung, sind bezahlte Mehrarbeiten nicht denkbar. Ansonsten könnte der Arbeitnehmer frei entscheiden, eine zusätzliche Vergütung durch die Leistung von Überstunden zu erhalten. Die Zweifel des LAG Berlin-Brandenburg an diesem Erfordernis scheinen denn auch wenig fundiert begründet, und es ist nicht zu erwarten, dass das BAG diese aufgreifen wird.
Hat der Arbeitgeber aber Kenntnis von regelmäßig geleisteten Überstunden, etwa auch über elektronische Zeiterfassungssysteme, ist die Annahme einer Duldung konsequent. Um insoweit einer zusätzlichen Vergütungspflicht zu entgehen, kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer anweisen, Überstunden künftig nur nach vorheriger Abstimmung zu leisten. Die bestehende Aufzeichnungspflicht gem. § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG ist von der Frage der Vergütungspflicht unabhängig und zur Vermeidung einer Ordnungswidrigkeit zu beachten.