Sie war ein echtes Kuriosum im seit dem 01.01.2015 geltenden Mindestlohngesetz (MiLoG): Die zeitlich begrenzte Übergangsvorschrift für Zeitungszusteller gem. § 24 Abs. 2 MiLoG. Dementsprechend dauerte es nicht lange, bis sich die Rechtsprechung auch mit diesem Teil des Mindestlohngesetzes, z.B. mit der Definition des Zustellungsbegriffs, zu befassen hatte. Was allerdings noch ausstand, war die, um in Bild zu bleiben, auf der „Titelseite“ stehende Frage nach der grundsätzlichen Zulässigkeit einer solch speziellen Ausnahme. Diesen Zustand hat das BAG mit seiner Entscheidung vom 25.04.2018 – 5 AZR 25/17, von der bislang lediglich die die Pressemitteilung vorliegt, nunmehr beendet. Was aber hat das BAG entschieden? Und wieso verdient die Entscheidung Beachtung auch über den Tellerrand des Mindestlohngesetzes hinaus?
Der Zeitungszusteller, das dem MiLoG wohlbekannte Wesen
Das Mindestlohngesetz tat sich von der ersten Stunde an recht schwer mit Ausnahmen. Nach allen Seiten hin insbesondere gegen Verzicht und Verwirkung abgesichert, sollte dem Mindestlohnanspruch auch keine Berufsgruppe entgehen. Lediglich die „Praktikanten“, besser gesagt bestimmte unter ihnen, sind unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 2 MiLoG vom Geltungsbereich des Gesetzes ausgenommen. Ob diese Ausnahmen dazu beigetragen haben, die durch das Mindestlohngesetz zu Recht befürchtete „Eintrittsschwelle“ in das Berufsleben abzusenken, darf indes gleichwohl bezweifelt werden, steht aber auf einem anderen Blatt. Ansonsten waren jedenfalls alle im großen Mindestlohnreigen dabei. Alle? Nicht ganz. Für eine kleine Gruppe, die Zeitungszusteller, war in § 24 Abs. 2 MiLoG ein Refugium geschaffen worden, dass für diese eine Übergangsregelung vorsah. Demnach erhielten Zeitungszusteller ab dem 01.01.2015 lediglich 75% und ab dem 01.01.2016 dann 85% des Mindestlohns. Ab dem 01.01.20l7 bis zum 31.12.2017 betrug der Mindestlohn gesetzlich definiert EUR 8,50 brutto je Zeitstunde und lag damit im letzten Jahr immer noch unter der zwischenzeitlich beschlossenen Erhöhung auf EUR 8,84 brutto ab dem 01.01.2018.
Mit Ablauf des 31.12.2017 trat der § 24 MiLoG dann außer Kraft. Er galt für Zeitungszusteller, d.h. gem. § 24 Abs. 1 Satz 2 MiLoG für Personen die in einem Arbeitsverhältnis ausschließlich periodische Zeitungen oder Zeitschriften an Endkunden zustellen, was auch Zusteller von Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt erfassen sollte. Ratio der Regelung war verkürzt ausgedrückt, die Sorge, dass der Zeitungsbote plötzlich nicht mehr klingeln würde, d.h. die Versorgung eines bestimmten Teils der Bevölkerung mit der grundgesetzlich gem. Art. 5 GG geschützten Presse nicht mehr gewährleistet wäre. Bereits an dieser Stelle wären erste Zweifel erlaubt gewesen, ob nicht auch andere Berufsgruppen verfassungsrechtlich nicht ganz unbedeutende Güter sichern und deswegen ebenfalls besonders hätten berücksichtigt werden müssen. Jedenfalls die „Abgrenzungsblüte“, ob denn auch das Konfektionieren, d.h. das Einlegen von Werbematerial in gem. § 24 Abs. 2 MiLoG „privilegierte Trägerprodukte“, noch unter den Begriff der Zustellung fallen würde, kam dann schnell vor Gericht und wurde bejaht (vgl. LAG Niedersachsen, Urt. v. 27.04.2016 – 13 Sa 848/15). Die viel drängendere Frage nach der grundsätzlichen Zulässigkeit eines Sonderarbeitsrechts für eine bestimmte Berufsgruppe stand indes noch aus.
Und was sagt das BAG dazu?
Der Entscheidung vom 25.04.2018 lag der Fall einer Zeitungszustellerin zugrunde, die seit dem 01.01.2015 jeweils lediglich den gem. § 24 Abs. 2 MiLoG reduzierten Mindestlohn erhalten hatte und deren Nachtarbeitszuschlag gem. § 6 Abs. 5 ArbZG nur auf der Grundlage des vertraglich vereinbarten Stücklohns, nicht aber des gesetzlichen Mindestlohns berechnet worden war. Sie machte dann geltend, die Vorschrift des § 24 Abs. 2 MiLoG sei wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 GG unwirksam und der Nachtarbeitszuschlag auf der Basis des Mindestlohns zu berechnen. Streit bestand bis zuletzt noch über die prozentuale Höhe des Nachtarbeitszuschlags, während insbesondere das BAG die Verfassungsmäßigkeit des § 24 Abs. 2 MiLoG bejahte. Der Gesetzgeber habe die ihm bei zeitlich begrenzten Übergangsvorschriften vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte besondere Gestaltungsfreiheit mit der auf drei Jahre begrenzten Sonderregelung des Mindestlohns für Zeitungszusteller nicht überschritten. Hinsichtlich der prozentualen Höhe des Nachtarbeitszuschlags gab es dem Begehren der Klägerin allerdings statt und stellte überdies fest, der Zuschlag sei auf der Grundlage des Mindestlohns zu berechnen, sofern nicht eine höhere Vergütung vereinbart wäre.
Eine genauere Bewertung der verfassungsrechtlichen Erwägungen des BAG muss der Überprüfung des Urteils in vollständig abgefasster Form vorbehalten bleiben. Es bleibt allerdings, zumal in Zeiten der Digitalisierung und mit ihr verbundener neuer Informationsquellen, fraglich, ob hier tatsächlich ein „verfassungsrechtlicher“ Sonderfall vorliegt, der einer Überprüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG standhält. Eindeutig sind überdies die Ausführungen des BAG zur Berechnungsgrundlage des Nachtarbeitszuschlags gem. § 6 Abs. 5 ArbZG, mit denen der Heranziehung eines unter dem Mindestlohn liegenden, vertraglich vereinbarten Lohns ein klarer Riegel vorgeschoben wird. Soweit ersichtlich, ist dies die erste Feststellung in Bezug auf arbeitsvertragliche Zuschläge, während es in der Entscheidung des BAG vom 20.09.2017 – 10 AZR 171/16 noch um einen tarifvertraglichen Nachtarbeitszuschlag gegangen war (siehe dazu auch den Blog „Neues vom BAG: Ob Feier oder Nacht, alles wird mit Mindestlohn gemacht?“ von Lars Christian Möller vom 27.09.2017).
Was das alles mit dem neuen Befristungsrecht zu tun hat?
Man könnte nun meinen, die Bedeutung der Entscheidung des BAG vom 27.04.2018 erschöpfe sich in der gewissermaßen rückwirkenden Bestätigung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der mittlerweile ohnehin wieder außer Kraft getretenen Sonderregelungen für die Zeitungszusteller im Mindestlohngesetz. Möglicherweise ist dies aber zu kurz gesprungen. Denn betrachtet man den jüngst besiegelten Koalitionsvertrag der GroKo III (siehe dazu auch den Blog „Habemus Koalitionsvertrag! – Und was steht da zum Arbeitsrecht drin?“ von Lars Christian Möller vom 08.02.2018), genauer die darin angekündigten Neuregelungen zum Befristungsrecht, sieht sich das BAG vielleicht schon bald wieder mit einer vergleichbaren Frage konfrontiert.
Die GroKo III, immerhin unter Führung der CDU/CSU (sic!), hat sich nämlich bekanntermaßen die erhebliche Eindämmung der für die Praxis so wichtigen sachgrundlosen Befristung auf die Fahnen geschrieben. Im Zusammenhang mit sog. „Kettenbefristungen“ will sie dabei allerdings Ausnahmen für „Sportler“ und „Künstler“ zulassen. Sollte es dazu kommen, wird sich die Frage nach deren verfassungsrechtlichen Zulässigkeit noch in einem ganz anderen Ausmaß stellen. Denn nicht nur sind diese beiden Begriffe wesentlich weniger trennscharf als derjenige eines „Zeitungszustellers“, sondern es wird auch spannend sein, zu sehen, welchen „Verfassungsrang“ der Gesetzgeber z.B. einem Zweitligaspiel der Fußball-Bundesliga oder dem sonntäglichen Tatort zuschreiben wird. Noch spannender wird dann sein, ob das BAG bzw. das BVerfG diese Einschätzung teilen wird, so wie es jetzt offenbar bei den Zeitungszustellern der Fall gewesen ist. Denn ist jedenfalls derzeit nicht erkennbar, dass die Ausnahmen für „Sportler“ und „Künstler“ im Befristungsrecht nur zeitlich begrenzt gelten sollten, womit ein wichtiger, von dem BAG in der Entscheidung vom 25.04.2018 erwähnter Rechtfertigungsgrund, entfiele.
Auch mit Blick auf die jüngste Entscheidung des BAG zu den Befristungen im Profi-Fußball (vgl. BAG, Urt. v. 16.01.2018 – 7 AZR 312/16, siehe dazu auch den Blog „2:1 nach Verlängerung: Befristungen im Profifußball sind zulässig!“ von Frank Zaumseil vom 17.01.2018) mag sich hier also dennoch eine gewisse Tendenz ankündigen, „Sonderarbeitsrecht“ im Einzelfall zu goutieren. Besser wäre es freilich, der Gesetzgeber würde derart beschränkende Eingriffe von vorneherein unterlassen, anstatt hinterher mühsam versuchen zu müssen, die praktischen Gegebenheiten irgendwie doch noch zu berücksichtigen. Vor allem würde er den betroffenen Berufsgruppen damit auch die abzulehnende Diskussion über deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Bedeutungsgrad ersparen.