Jahrelang hat der Gesundheitsschutz in der betrieblichen Praxis ein oftmals wenig beachtetes Schattendasein geführt. Doch in Zeiten des Fachkräftemangels, zunehmender Kostenoptimierung und Leistungsverdichtung ist aktuell wohl kaum ein anderes Thema derart in den Fokus von Arbeitnehmervertretern und Öffentlichkeit gerückt. Dabei sind Unternehmen mit einem schwer zu durchschauenden Dickicht aus Gesetzen, Verordnungen und arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert, die den Gesundheitsschutz schnell zur Compliance-Falle machen können. In Teil 1 unserer Beitragsreihe: Kann der Arbeitgeber zu einer „Mindestbesetzung“ gezwungen werden, um Mitarbeiter zu entlasten?
Zankapfel Pflegebranche
Spätestens seit dem Bundestagswahlkampf 2017 diskutiert die Politik, wie die als „Pflegenotstand“ bezeichnete Personalsituation im Krankenhaus- und Pflegebereich verbessert werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei auch die Frage, wie viele Pflegekräfte im Verhältnis zur Patientenzahl eingesetzt werden sollten und ob es insoweit gesetzlicher Mindestvorgaben bedarf.
Am 1. August 2018 hat die Bundesregierung nunmehr den Entwurf des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes beschlossen, wonach u.a. ein solcher Personalquotient für die Pflege geschaffen werden soll – allerdings erstmals zum 31. Mai 2020. Den Gewerkschaften geht das offenkundig nicht schnell genug, so dass bereits seit Monaten – medienwirksam begleitet durch Streikmaßnahmen – bundesweit um den Abschluss von „Tarifverträgen für Entlastung und mehr Personal“ gerungen wird. So wurden kürzlich etwa für die Unikliniken Essen und Düsseldorf tarifliche Regelungen vereinbart, wonach konkrete Mindestbesetzungen pro Station und Schicht festzulegen sind.
Mindestbesetzung gegen den Willen des Arbeitgebers?
Für Unternehmen – auch außerhalb der Pflegebranche – stellt sich insoweit die Frage, ob Mitarbeiter unter Hinweis auf den Gesundheitsschutz Mindestbesetzungen beanspruchen oder gar erzwingen können. Denn auch in anderen Bereichen – sei es Einzelhandel, Produktion oder Dienstleistung – wird mitunter eine (vermeintliche) Überlastung durch Unterbesetzung beklagt.
Gibt es also ein Mitspracherecht bei der Personalstärke?
Der Gesetzgeber hat mit § 92 BetrVG ein Unterrichtungs- und Beratungsrecht des Betriebsrats bei der Personalplanung vorgesehen. Dazu gehört auch die Personalbedarfsplanung, also u.a. die Frage, wie viele Mitarbeiter zur Verwirklichung der Unternehmensziele benötigt werden. Hier kann der Betriebsrat auch eigene Vorschläge einbringen. Für das Unternehmen sind diese allerdings nicht verbindlich. In der Praxis ist dieses Beteiligungsrecht also letztlich ein eher stumpfes Schwert des Betriebsrats, weil ein echtes Mitbestimmungsrecht insoweit gerade nicht vorgesehen ist.
Auch unter dem Gesichtspunkt der mitbestimmungspflichtigen Arbeitszeitgestaltung (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) kann der Betriebsrat keine Mindestbesetzungsregelung verlangen. Denn dieses Mitbestimmungsrecht betrifft allein die Lage und Verteilung der Arbeitszeit (z.B. den Schichtrhythmus), nicht aber deren Umfang und schon gar nicht die jeweilige Personalstärke.
Insoweit hat im Juli 2017 eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel für Aufsehen gesorgt, die eine Mindestbesetzung als vom Mitbestimmungsrecht gedeckte Maßnahme des Gesundheitsschutzes (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) ansah. In dem konkreten Fall war der Arbeitgeber – ein Klinikbetreiber – durch Spruch der Einigungsstelle zu einer Mindestbesetzung von Pflegekräften verpflichtet worden, weil angeblich infolge Überlastung drohende physische und psychische Gesundheitsgefährdungen für Mitarbeiter nicht anderweitig abwendbar gewesen wären.
Die zweite Instanz sah das nunmehr – aus Arbeitgebersicht erfreulich – ganz anders und stellte die Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruchs fest (LAG Schleswig-Holstein vom 25.4.2018 – 6 TaBV 21/17). Denn zum einen waren schon gar keine konkreten Gefährdungen festgestellt worden, die überhaupt eine Handlungspflicht des Arbeitgebers hätten auslösen können. Zum anderen gehe das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beim Gesundheitsschutz ohnehin nicht so weit, dass der Betriebsrat – quasi durch die Hintertür – doch in die Personalplanung eingreifen könne. Die Frage, wie viele Mitarbeiter eingesetzt werden, ist danach mitbestimmungsfrei.
Ausblick
Die meisten Arbeitgeber können erst einmal durchatmen: Mindestbesetzungen bzw. vergleichbare Regelungen zur Personalstärke sind nach aktuellem Stand der Rechtsprechung nicht vom Betriebsrat erzwingbar. Das letzte Wort ist hier aber noch nicht gesprochen, denn der Fall liegt nunmehr beim Bundesarbeitsgericht.
Wie die aktuelle Entwicklung belegt, können Besetzungsregelungen allerdings auf tariflicher Ebene gefordert und mitunter auch „erstreikt“ werden. Die Erfahrung zeigt, dass die konkrete Anwendung solcher Regelungen in der betrieblichen Praxis wiederum vielfältige Probleme aufwerfen kann, etwa wie mit unvorhergesehenen krankheitsbedingten Ausfällen oder anderen Personalengpässen umzugehen ist. Darüber hinaus ist – jedenfalls in der Pflegebranche – der weitere Gang des Gesetzgebungsverfahrens im Blick zu behalten.
In Folgebeiträgen werden wir weitere aktuelle Brennpunkte des betrieblichen Gesundheitsschutzes beleuchten, etwa den richtigen Umgang mit Überlastungsanzeigen, Maßnahmen zur Arbeitszeitgesetz-Compliance oder die Implementierung von Gefährdungsbeurteilungen.