In unserem Beitrag vom 18.06.2018 haben wir auf die sich schon damals abzeichnende Entscheidung des EuGH zum Urlaubsrecht aufmerksam gemacht. Konkret ging es um die Fragen, unter welchen Voraussetzungen der Urlaubsanspruch vererbbar ist und – für die tägliche Praxis um einiges bedeutender – ob Arbeitgeber in Zukunft auch dann zur Urlaubsgewährung verpflichtet sind, wenn die Arbeitnehmer diesen nicht beantragt haben. Anlass waren jeweils zwei Vorlagebeschlüsse der nationalen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Auslegung des Art. 7 der Richtlinie 2003/88. Über die diesen Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalte und die vom Generalanwalt beim EuGH vorgelegten Schlussanträge haben wir an dieser Stelle bereits berichtet. Unsere damalige Vorhersage (oder eher: Befürchtung) hat sich nunmehr bewahrheitet: Der EuGH ist den Schlussanträgen des Generalanwalts gefolgt. Was bisher galt, gilt nun nicht mehr.
Nach EuGH wird „illegal“, was bisher als „legal“ galt
Ganz aktuell, nämlich am 06.11.2018, hat der EuGH (in den Rechtssachen C-619/16 und C-684/16 sowie in den Rechtssachen C-569/16 und C-570/16) alle Vorlagefragen dahingehend entschieden, dass
ein Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch am Ende des Bezugszeitraums bzw. seinen Anspruch auf Abgeltung des bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaubs nicht automatisch verliert, wenn er keinen Urlaub beantragt hat,
und
unabhängig vom Grund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein finanzieller Vergütungsanspruch für nicht genommene Urlaubstage entsteht, der bei Beendigung durch Tod des Arbeitnehmers im Weg der der Rechtsnachfolge auf die Erben übergeht.
Aufforderungs- und Hinweispflicht!
Zum Verfall des Urlaubsanspruchs führt der EuGH Im Einzelnen aus:
- Vom Arbeitgeber ist nicht zu verlangen, dass er seine Arbeitnehmer zwingt, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen.
- Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer jedoch in die Lage versetzen, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen.
- Hierzu muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen noch verbleibenden Urlaub für den Bezugszeitraum zu nehmen.
- Gleichzeitig muss der Arbeitgeber klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub, sollte er nicht genommen werden, am Ende des Bezugszeitraums oder des zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird.
- Hierfür ist der Arbeitgeber im Streitfall beweispflichtig.
- Nur, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen und er aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenen Konsequenzen dennoch darauf verzichtet, steht Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 der RL 2003/88 dem Verlust des Anspruchs bzw. Abgeltungsanspruchs nicht entgegen.
Das bedeutet konkret:
Gemäß des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung sind die nationalen Gerichte – auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) – gehalten, die europäischen Richtlinien zu beachten und notfalls eine gefestigte Rechtsprechung insoweit abzuändern. Die vom EuGH aufgestellten Grundsätze sollten daher von jedem Arbeitgeber schon jetzt berücksichtigt werden. Dennoch werden alle Einzelheiten zu den konkreten Auswirkungen der bevorstehenden Rechtsprechungsänderung wohl erst in den nächsten Jahren geklärt sein. Denn schon jetzt bleiben viele Fragen offen, insbesondere:
- Wann muss die Unterrichtung der Arbeitnehmer erfolgen, um als „rechtzeitig“ zu gelten? Hierüber hatte der EuGH nicht zu entscheiden, so dass die Entscheidung des BAG – 9 AZR 541/15 – im Ausgangsverfahren abzuwarten ist, in dem der betroffene Arbeitnehmer am 23.10. zum Abbau seiner restlichen Urlaubstage aufgefordert worden war.
- Nach welchen Kriterien bemisst sich die Beurteilung der Rechtzeitigkeit? Wie wirkt es sich aus, wenn der Mitarbeiter bereits einen Teil seines Urlaubs auf das Jahresende gelegt hat; eventuell gibt es auch keinen starren Zeitpunkt, da die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind.
- Gelten die vom EuGH aufgestellten Grundsätze auch auf für den auf das Folgejahr übertragenen Urlaubsanspruch? Falls ja – was zu erwarten ist -, wann im Übertragungszeitraum hat die rechtzeitige Mitteilung zur Aufklärung zu erfolgen?
- Auf welche Art und Weise ist die „förmliche Mitteilung“ vorzunehmen und welche Umstände sind insoweit zu berücksichtigen (Beweislast!)?
- Welche organisatorischen Maßnahmen sind dem Arbeitgeber insoweit zumutbar?
- Inwieweit kann der Arbeitnehmer womöglich doch in die Pflicht genommen werden, auf vorhandenen Resturlaub hinzuweisen?
Es besteht daher dringender Handlungsbedarf!
Mit Blick auf den nicht mehr weit entfernten Jahreswechsel und das bevorstehende Ende des Bezugszeitraums ist dringender Handlungsbedarf geboten. Jeder Arbeitgeber sollte sich
- schnellstmöglich einen Überblick über den Urlaubsstand seiner Mitarbeiter verschaffen,
- die Mitarbeiter mit noch offenen Urlaubsansprüchen unverzüglich und „förmlich“ auffordern, ihren Resturlaub bis zum Ende des Jahres zu nehmen und entsprechend aufklären und
- darauf hoffen, dass die verbleibende Zeit ausreicht, um eine „rechtzeitige“ Aufklärung annehmen zu können.
Welche organisatorischen Maßnahmen zudem für die Zukunft erforderlich werden, hängt weitgehend von den bestehenden Strukturen und der Unternehmensgröße ab. Diese sollten jedoch zeitnah in Angriff genommen werden.