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Betriebsrat Betriebsverfassung Digitalisierung

Happy Birthday, lieber Betriebsrat

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Landauf, landab feiern Betriebsräte in diesen Tagen einen runden Geburtstag. Denn am 4. Februar 1920 trat das Betriebsrätegesetz in Kraft, mit dem erstmals betriebliche Mitbestimmung ermöglicht wurde und das die Basis unseres heutigen BetrVG war. 100 Jahre später fragt man sich: Ist die Betriebsverfassung noch zeitgemäß? Wir zeigen, wo Reformbedarf besteht.

Zum Anfang ein Blutbad

Als das Betriebsrätegesetz im Januar 1920 im Reichstag verhandelt wurde, kam es in Berlin zu Massendemonstrationen mit 100.000 Teilnehmern. Der Grund: Wie im heutigen BetrVG sah der Gesetzentwurf Mitbestimmungsrechte in personellen und sozialen, nicht aber in wirtschaftlichen Angelegenheiten vor – Sozialisten und Kommunisten ging das nicht weit genug. Der Konflikt eskalierte und es kam zu einem Blutbad mit 42 Toten.

Heute geht es zum Glück weniger blutig zu. Doch auch das aktuelle BetrVG ist nicht unumstritten. Denn auch wenn sich viele einig sind, dass die Mitbestimmung an sich solide funktioniert, werden unter dem Eindruck der Digitalisierung zunehmend kritische Stimmen laut: Ist die Betriebsverfassung eine Innovationsbremse und damit ein Wettbewerbsnachteil für den Standort Deutschland?

Nicht von der Hand zu weisen ist, das BetrVG beruht heute noch maßgeblich auf der Novelle aus dem Jahr 1972 – einer Zeit, als Lochkarten modern waren. Wir arbeiten also mit einem Gesetz, das für eine analoge Arbeitswelt geschaffen wurde. Dass dies in einer zunehmend digitalisierten Welt für Unstimmigkeiten sorgt, verwundert kaum.

Unser Wunschzettel

Doch wo genau zeigt sich, dass das BetrVG nicht mehr zeitgemäß ist und der Gesetzgeber ein Update spendieren sollte? Hier eine kleine „Best of“-Auswahl:

  • Die Betriebsratswahl ist kompliziert, bürokratisch und papierlastig. Eine Onlinewahl – bisher nicht zulässig – wäre schneller, bequemer, kostengünstiger und dürfte überdies auch zu einer höheren Wahlbeteiligung führen.
  • Die Betriebsratsarbeit ist bisher auf physische Anwesenheit ausgelegt. Wie andere Arbeitsprozesse auch sollte sie für zeitgemäße Technologien geöffnet werden, z.B. Betriebsratssitzungen per Videokonferenz.
  • Die Mitbestimmung bei technischen Einrichtungen ist heutzutage uferlos, da es kaum noch Geräte gibt, die nicht in irgendeiner Form abstrakt dazu geeignet sind, Verhalten oder Leistung von Mitarbeitern zu überwachen. Zudem ist der Arbeitgeber – insbesondere bei Cloud-/„Software as a Service“-Lösungen – darauf angewiesen, Updates ohne langwierige Mitbestimmungsverfahren nutzen zu können. Entsprechende Rahmenregelungen sollten daher erzwingbar sein, zur Beschleunigung sollte es – ähnlich wie bei personellen Einzelmaßnahmen – Mechanismen wie Zustimmungsfiktion und vorläufige Einführbarkeit geben.
  • Die Mitbestimmung beim Gesundheitsschutz ist ebenfalls uferlos und droht, sich zur „Expertokratie“ zu entwickeln, in der sich arbeitswissenschaftliche Sachverständige tummeln. Mitunter jahrelange Einigungsstellenverfahren sind die Folge. Der Gesetzgeber sollte zumindest zertifizierte Verfahren für Gefährdungsbeurteilung & Co. zur Verfügung stellen.
  • Insbesondere bei Blockadehaltung und Zeitspiel des Betriebsrats dauert der Weg in die Einigungsstelle noch zu lange. Denn das Gesetz sieht zwar ein gerichtliches Einsetzungsverfahren vor, das in vier Wochen erstinstanzlich abgeschlossen sein soll. Doch für die zweite Instanz fehlt eine zeitliche Vorgabe, so dass es ab dem Scheitern der Verhandlungen insgesamt mehrere Monate dauern kann, bis die Einigungsstelle starten kann. Die Abschaffung der zweiten Instanz bei diesem Verfahren könnte den Prozess deutlich beschleunigen.
  • Schließlich kommt auch der Betriebsbegriff zunehmend an seine Grenzen. Denn immer seltener besteht die heutige Arbeitswelt aus räumlich und organisatorisch klar abgegrenzten Einheiten. So lässt sich der klassische Betriebsbegriff, wie ihn das Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung anwendet, etwa mit Matrixstrukturen nur schwer in Einklang bringen. Das gleiche gilt für vollständig digitale Strukturen, etwa Mitarbeitereinsatz per App. Ein Lösungsansatz könnte sein, Unternehmen mehr Gestaltungsspielräume für maßgeschneiderte Arbeitnehmervertretungsstrukturen (§ 3 BetrVG) einzuräumen.

Auf die nächsten 100 Jahre?

Um nicht missverstanden zu werden: Das BetrVG ist ein solides Fundament. Doch der Reformbedarf wächst. Um Unternehmen mit Betriebsräten fit für die nächsten 100 Jahre zu machen, sollte der Gesetzgeber ein Update spendieren. Sonst droht die Betriebsverfassung zur Innovationsbreme zu werden. Vom Gesetzgeber ist derzeit indes wenig zu erwarten, der Fokus scheint woanders zu liegen. Umso mehr sind Unternehmen daher gut beraten, den Tücken der analogen Gesetzeslage bei der Bewältigung der Digitalisierung und anderen Herausforderungen mit fachkundiger Unterstützung zu begegnen, um nicht ausgebremst zu werden.

Jörn-Philipp Klimburg LL.M.

Rechts­an­walt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Principal Counsel
Jörn-Philipp Klimburg berät deutsche und internationale Unternehmen sowie öffentlich-rechtliche Institutionen umfassend in allen Fragen des Arbeitsrechts. Schwerpunkte bilden die Gestaltung und Begleitung von Restrukturierungen, Outsourcing-Projekten und M&A-Transaktionen sowie die Vertretung in Arbeitsgerichtsprozessen. Besondere Expertise hat er zudem im Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsrecht sowie im Bereich der Anstellungsverhältnisse von Vorständen und Geschäftsführern. Jörn-Philipp Klimburg ist bei KLIEMT.Arbeitsrecht verantwortlich in der Fokusgruppe "Whistleblowing und Compliance".
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