Arbeitsrecht in der Krise – und im Wandel: Insbesondere die Digitalisierung der Arbeitswelt wird durch die staatlichen Vorgaben zur Beschränkung sozialer Kontakte massiv vorangetrieben. Daraus ergeben sich vielfältige Rechtsfragen. Wie funktioniert beispielsweise betriebliche Mitbestimmung in Zeiten von Home Office, Social Distancing und Ausgangssperren? Darf sich der Betriebsrat per Videokonferenz zur Sitzung zusammenfinden, um über eine Betriebsvereinbarung zur Einführung von Kurzarbeitergeld zu beschließen? Das BMAS sagt ja; Corona sei schließlich eine Ausnahmesituation (Ministererklärung vom 23.03.2020). Wir erklären, warum diese zugegebenermaßen pragmatische Handlungsanweisung mit Vorsicht zu genießen und welcher Ansatz jetzt zielführend ist.
Ausgangspunkt: Anwesenheitspflicht bei Betriebsratssitzungen
Aktuell besteht aufgrund der Coronakrise viel betrieblicher Handlungsbedarf, bei dem der Betriebsrat mitzubestimmen hat, Stichwort natürlich vor allem: Kurzarbeit. Das BetrVG ist auf solche Ausnahmesituationen jedoch nicht zugeschnitten, es stammt noch aus der „analogen“ Zeit. So sieht es vor, dass der Betriebsrat zu Sitzungen zusammenkommt, um seine Beschlüsse zu fassen. Die Nutzung von elektronischen Kommunikationsmitteln wie Video- oder Telefonkonferenzen zur Teilnahme ist nicht (explizit) vorgesehen. Vielmehr sind Beschlüsse mit der Mehrheit der Stimmen der „anwesenden“ Mitglieder zu fassen (§ 33 Abs. 1 S. 1 BetrVG) und alle Teilnehmer der Sitzung müssen sich „eigenhändig“ in eine Anwesenheitsliste eintragen (§ 34 Abs. 1 S. 3 BetrVG). Daraus wird geschlossen, Betriebsratssitzungen könnten ausschließlich unter unmittelbar körperlicher Anwesenheit der Betriebsratsmitglieder im Sitzungssaal stattfinden. Einer Sitzung per Video- oder Telefonkonferenz stehe außerdem der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit (§ 30 S. 4 BetrVG) entgegen, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass Unbefugte ohne Kenntnis der übrigen Sitzungsteilnehmer von deren Inhalt erführen. Andere Auffassungen dazu werden nach dem Prinzip „Zwei Juristen, drei Meinungen“ vereinzelt natürlich vertreten, höchstrichterliche Rechtsprechung fehlt allerdings. Lediglich die Beschlussfassung im Umlaufverfahren (beispielsweise per E-Mail denkbar) ist klar unzulässig. Da ein Verstoß gegen die formellen und zwingenden Vorgaben des BetrVG einen Betriebsratsbeschluss schlimmstenfalls unwirksam macht, wird seit längerem gefordert, der Gesetzgeber müsse aktiv werden um diese Unsicherheit zu beseitigen und das BetrVG an die Anforderungen der modernen Arbeitswelt anzupassen.
Coronakrise: Video- oder Telefonkonferenz im Ausnahmefall zulässig? Dazu das BMAS…
Das BAMS appelliert nun aktuell an die Betriebsparteien, mit Blick auf die Coronakrise pragmatische Lösungen für die Frage zu finden, wie trotz physischer Abwesenheit einzelner oder aller Betriebsratsmitglieder wirksame Beschlüsse erreicht werden können (Ministererklärung vom 23.03.2020). Insoweit soll nach der Auffassung des Bundesministers Hubertus Heil die Teilnahme an einer Betriebsratssitzung mittels Video- oder Telefonkonferenz einschließlich online gestützter Anwendungen wie WebEx Meetings oder Skype in der aktuellen Ausnahmesituation zulässig sein. Dies gelte insbesondere, wenn die Teilnahme an einer Präsenzsitzung zu Gefahren für das Leben oder die Gesundheit der Betriebsratsmitglieder führen würde oder wegen behördlicher Anordnungen nicht möglich sei. Weil es eine handschriftlich unterzeichnete Anwesenheitsliste in solch einem Fall nicht geben könne, solle die Teilnahme gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden in Textform, also zum Beispiel per E-Mail, bestätigt werden. Um den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit zu wahren, sei sicherzustellen, dass unberechtigte Dritte nicht an der Sitzung teilnehmen könnten.
Und geht das jetzt wirklich alles einfach so?
Zwar kann die Rechtsauffassung des Ministers Heil durchaus mittels Rückgriff auf eine Regelung für den Europäischen Betriebsrat im Wege einer Analogie begründet werden: Die Sitzungsteilnahme mittels neuer Informations – und Kommunikationstechnologien ist für diesen explizit erlaubt – allerdings nur für Besatzungsmitglieder von Seeschiffen, die sich auf See oder in einem ausländischen Hafen befinden (vgl. § 41a Abs. 2 EBRG). Ob die Arbeitsgerichte der bisher nur in der Literatur befürworteten Analogie folgen würden, ist jedoch offen. Die Aussage des Bundesministers als Teil der Exekutive hat für die Arbeitsgerichte jedenfalls keinerlei Bindungswirkung, so dass auch ein „Schiffbruch“ bei diesem Vorgehen nicht ausgeschlossen ist. Schlimmstenfalls könnte dann beispielsweise eine Betriebsvereinbarung zur Vereinbarung von Kurzarbeitergeld unwirksam sein, so dass die Arbeitnehmer gem. § 615 BGB weiterhin ihren vollen Lohnanspruch gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen könnten.
Praxishinweise für Arbeitgeber
Ein Minister ist ein Minister ist ein Minister – und kein Gericht oder Parlament. Will sagen: Arbeitgeber sind gut beraten, im Zweifel von der unveränderten Rechtslage auszugehen und insbesondere bei Abschluss von Betriebsvereinbarungen zur Einführung von Kurzarbeit soweit irgend möglich auf eine physische Zusammenkunft der Betriebsratsmitglieder in ausreichender Zahl zwecks Beschlussfassung zu achten bzw. alle hierfür nötigen Mittel und Hilfen bereit zu stellen. Sichere Möglichkeiten für eine nicht-physische Beschlussfassung muss (und wird hoffentlich) dagegen der derzeit erfreulich aktive sowie den berechtigten Interessen der Wirtschaft in dieser außergewöhnlichen Krisenzeit zugetane Gesetzgeber schaffen. Im Übrigen ist aktuell je nach den individuellen Gegebenheiten im Betrieb ein pragmatisches und gemeinsames Vorgehen der Betriebsparteien angezeigt. Dies kann im Einzelfall durchaus auch Raum für kreative Lösungen bieten, soweit die damit verbundenen Risiken vertretbar erscheinen. Wenn im Extremfall auf neue Technologien zurückgegriffen wird, sollten diese sowohl die auditive als auch visuelle Wahrnehmung ermöglichen, weil man damit der „regulären“ Betriebsratssitzung – und damit dem Gesetzeszweck –noch am nächsten kommt. Videokonferenzen sollten also, sofern technisch möglich, grundsätzlich Telefonkonferenzen vorgezogen werden. Welcher Weg auch gewählt wird: am Ende muss stets die Gesundheit im Vordergrund stehen – die des Betriebes und vor allem: der beteiligten Menschen.