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Top 5 des Jahres 2020 – Entscheidungen, die bleiben

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Im Jahr 2020 gab es wieder eine Reihe spannender Gerichtsentscheidungen, die in einem juristischem Jahresrückblick nicht fehlen dürfen. Unsere Top 5 der Entscheidungen, über die in diesem Jahr gesprochen wurde, stellen wir in diesem Beitrag vor. 

Top 1

Crowdworker als Arbeitnehmer

Das BAG entschied erst jüngst am 1. Dezember 2020, dass Crowdworker Arbeitnehmer sein können (BAG vom 1. Dezember 2020 – 9 AZR 102/20). Damit hob es eine viel beachtete Entscheidung des LAG München aus dem Vorjahr auf, nach der zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis begründet worden sei, da der Vertrag zwischen der Vermittlungsplattform und dem Crowdworker keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung begründe (LAG München vom 4. Dezember 2019 – 8 Sa 146/19).

Nach der neuen Entscheidung des BAG, die noch nicht im Volltext vorliegt, sei für die Arbeitnehmereigenschaft des Crowdworkers hingegen die Organisationsstruktur des Plattformbetreibers entscheidend. Ein Anreizsystem, das den Crowdworker zur kontinuierlichen Annahme von Aufträgen veranlasst, spreche nach Ansicht des BAG entscheidend dafür, dass ein Arbeitsverhältnis begründet werde.

Die Entscheidung hat nicht zur Folge, dass Crowdworker nun per se als Arbeitnehmer gelten. Sie zeigt aber, dass die Vergabe von Aufträgen an Crowdworker risikobehaftet sein kann. Dies gilt vor allem, weil bei Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses in der Regel auch ein sozialversicherungsrechtrechtliches Beschäftigungsverhältnis vorliegt. Ohne geeignete Compliance-Maßnahmen sind Crowdworker-Einsätze nur noch mit Vorsicht zu genießen. Anderweitige Hoffnungen, die das LAG München noch im Jahr 2019 machte, sind daher zerplatzt.

Top 2

Zeiterfassung von Überstunden: Arbeitsgericht überholt Gesetzgeber

Das Arbeitsgericht Emden machte gleich zwei Mal im Jahr 2020 auf sich aufmerksam, das heißt mit Entscheidungen vom 20. Februar 2020 und 24. September 2020 (ArbG Emden vom 20. Februar 2020 – 2 Ca 94/19; ArbG Emden vom 24. September 2020 – 2 Ca 144/20).

Es hat entscheiden, dass Arbeitgeber bereits heute aufgrund der Grundsatzentscheidung des EuGH zur Arbeitszeit (vom 14. Mai 2019 – C-55/18, Rs. „CCOO“) verpflichtet seien, mit Hilfe eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems“ nachzuweisen, dass vom Arbeitnehmer dokumentierten Überstunden tatsächlich nicht angefallen sind. Kämen die Arbeitgeber diesen Anforderungen nicht nach, seien Arbeitnehmer grundsätzlich berechtigt, Vergütung für diese Überstunden zu verlangen. 

Bislang ging man davon aus, dass die durch den EuGH skizzierten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Zeiterfassung nur Handlungspflichten gegenüber den Mitgliedstaaten begründen.

Damit kommt das Arbeitsgericht Emden dem Gesetzeber zuvor, der seit fast zwei Jahren zögert, die Vorgaben des EuGH-Urteils durch eine gegebenenfalls erforderliche Anpassung des ArbZG umzusetzen. 

Top 3

Annahmeverzugslohn und böswillig unterlassender Erwerb

Weiter entschied das BAG, dass ein Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Auskunft über die von der Agentur für Arbeit erfolgten Vermittlungsvorschlage hat, wenn der Arbeitnehmer in Zusammenhang mit einem Kündigungsschutzprozess Annahmeverzugslohn verlangt (BAG vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 387/19).

Arbeitnehmer, die einen Kündigungsschutzprozess führen und diesen gewinnen, können vom Arbeitgeber in der Regel Vergütung für die Dauer des Kündigungsschutzprozesses verlangen (sogenannten Annahmeverzugslohn). Der Arbeitgeber trägt damit das Annahmeverzugslohnrisiko, welches Arbeitgeber oft auf „Anregung“ der Gerichte dazu verleitet, Kündigungsschutzprozesse einvernehmlich gegen Zahlung einer Abfindung zu beenden. 

Durch die Entscheidung des BAG ist es den Arbeitgebern möglich, auf diesen Annahmeverzugslohn jedenfalls etwaigen böswillig unterlassenen Erwerb gemäß § 11 KSchG anzurechnen. Für Arbeitgeber ergibt sich hierdurch eine Möglichkeit, den Annahmeverzugsansprüchen entgegenzutreten, das eigene Annahmeverzugslohnrisiko zu begrenzen und somit überhöhten Abfindungszahlungen entgegenzuwirken.

Top 4

Einsichtnahmerecht in Bruttoentgeltlisten

Eine weitere wichtige Entscheidung fällte das BAG zu dem Anspruch des Betriebsrats auf Einsichtnahme von Bruttoentgeltlisten (BAG vom 28. Juli 2020 – 1 ABR 6/19).

Ein solches bestehe jedenfalls nicht nach § 13 Abs. 2 S. 1 EntgTranspG, wenn der Arbeitgeber die Beantwortung der Auskunftsansprüche berechtigterweise selbst gewährleistet hat. Den Betriebsrat treffe dann nach dem EntgTranspG keine Auskunftsverpflichtung mehr, so dass ihm insofern auch kein Einsichts- und Auswertungsrecht der Bruttoentgeltlisten nach dem EntgTranspG zustehe.

Das bestehende Einsichts- und Auswertungsrecht des Betriebsrats nach § 80 Abs. 2 S. 2 Halbs. 2 BetrVG bleibt hiervon jedoch unberührt (so zuletzt BAG vom 7. Mai 2019 – 1 ABR 53/17). Dies bedeutet, dass es Betriebsräten unbenommen bleibt, ihre Einsichtsrechte unabhängig vom EntgTranspG nach § 80 Abs. 2 S. 2 BetrVG geltend zu machen.

Top 5

Gesetzliche Kündigungsfrist für Geschäftsführer

Das BAG entschied, dass auf Geschäftsführerdienstverträge die erheblich kürzeren Kündigungsfristen des § 621 BGB Anwendung finden und nicht die nach Betriebszugehörigkeit gestaffelten Fristen des § 622 Abs. 1, 2 BGB (BAG vom 11. Juni 2020 – 2 AZR 374/19).

Damit wendet sich das BAG gegen die Rechtsprechung des BGH, der bislang die längeren Kündigungsfristen des § 622 BGB als maßgeblich betrachtete.

Unklar bleibt, ob der BGH sich nun dieser Auffassung des BAG anschließen wird oder ob es etwa zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zur Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes nach Art. 95 Abs. 3 GG i. V. m. dem Rechtsprechungs-Einheitlichkeitsgesetz kommen wird.

Bis dahin gilt: Die gesetzliche Kündigungsfrist eines GmbH-Geschäftsführers kann – sofern nicht abweichend im Vertrag geregelt – auch einmal sehr kurz sein.

Das Jahr 2020 hat damit richtungsweisende Entscheidungen mit sich gebracht, die sicher bleiben und die betriebliche Praxis zukünftig bestimmen werden.

KLIEMT.Arbeitsrecht




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