Über die Auslegung von Betriebsvereinbarungen entscheiden grundsätzlich die Arbeitsgerichte. Die Betriebsparteien können jedoch auch vereinbaren, dass bei Auslegungsstreitigkeiten (zunächst) eine Einigungsstelle anzurufen ist. Doch ist ein solches Vorgehen sinnvoll?
Der Weg zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung kann bekanntlich steinig sein. Doch der Abschluss selbst ist oft nur die halbe Miete. Kaum sind die Unterschriften beider Betriebsparteien unter dem hart verhandelten Dokument trocken, ergeben sich schon die nächsten Diskussionspunkte: Wie sind die Regelungen in der Praxis korrekt auszulegen und anzuwenden? Zur Klärung dieser Streitfragen sehen manche Betriebsvereinbarungen die Einsetzung einer Einigungsstelle vor. Doch wie sinnvoll ist das? Und welche Rechtsqualität hat ein Einigungsstellenspruch in diesen Fällen?
Innerbetriebliche Streitbeilegung mithilfe der Einigungsstelle
76 BetrVG gibt den Betriebsparteien ein Instrument zur innerbetrieblichen Streitbeilegung an die Hand: die Einigungsstelle. Das BetrVG unterscheidet dabei zwischen dem freiwilligen und dem erzwingbaren Einigungsstellenverfahren. Letzteres kommt dort zum Tragen, wo erzwingbare Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bestehen, also beispielsweise in sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG oder beim Abschluss von Sozialplänen nach § 112 BetrVG. Erzielen die Parteien hier keine einvernehmliche Lösung, kann jede Seite die Einsetzung einer Einigungsstelle verlangen, deren Spruch die Einigung der Parteien ersetzt. Im erzwingbaren Einigungsstellenverfahren können Arbeitgeber und Betriebsrat somit auch gegen den Willen der jeweils anderen Betriebspartei eine Regelung durchsetzen. Dabei entfaltet der Einigungsstellenspruch regelmäßig Bindungswirkung, sofern er nicht gemäß § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG fristgemäß gerichtlich angefochten wird.
Auch außerhalb der erzwingbaren Mitbestimmung steht es den Betriebsparteien grundsätzlich frei, sich bei Meinungsverschiedenheiten auf die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens zu verständigen. Der wesentliche Unterschied zwischen dem erzwingbaren und einem solchen freiwilligen Einigungsstellenverfahren besteht in der Bindungswirkung eines etwaigen Spruchs. Während der Spruch die Einigung der Parteien im erzwingbaren Einigungsstellenverfahren ohne weiteres ersetzt, handelt es sich bei der Entscheidung der freiwilligen Einigungsstelle lediglich um einen Einigungsvorschlag. Der Spruch ist für die Parteien nur bindend, wenn sie sich diesem im Voraus unterworfen haben oder ihn nachträglich annehmen.
Eine solche freiwillige Einigungsstelle kann grundsätzlich bei allen Regelungsfragen eingesetzt werden, die in die Zuständigkeit des Betriebsrats fallen und über welche die Betriebspartner verfügungsbefugt sind (beispielsweise die in § 88 BetrVG genannten Angelegenheiten). Darüber hinaus können aber auch reine Rechtsfragen, insbesondere Fragen der korrekten Anwendung und Auslegung einer Betriebsvereinbarung, Gegenstand eines freiwilligen Einigungsstellenverfahrens sein.
Die Besonderheiten bei der freiwilligen Einigungsstelle über reine Rechtsfragen
Bei der Einigungsstelle über reine Rechtsfragen ergibt sich hinsichtlich der Bindungswirkung eine zusätzliche Besonderheit. Eine Unterwerfung unter den Einigungsstellenspruch im Voraus (beispielsweise durch eine entsprechende Regelung in der Betriebsvereinbarung selbst) ist hier nicht zulässig. Denn die Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung von Rechtsfragen liegt grundsätzlich bei den Arbeitsgerichten. Eine vorherige Unterwerfung unter den Spruch würde diese Entscheidungskompetenz unzulässigerweise auf die Einigungsstelle verlagern. Darin sieht die Rechtsprechung eine nach § 4 ArbGG verbotene Schiedsgerichtsvereinbarung (vgl. BAG Beschluss vom 20.11.1990 – 1 ABR 45/89).
Eine Bindungswirkung kann daher im Rahmen des freiwilligen Einigungsstellenverfahrens über reine Rechtsfragen nur dann eintreten, wenn beide Parteien den Spruch im Nachhinein annehmen. Erfolgt keine beiderseitige Annahme, bleibt der Spruch unverbindlich. Den Parteien steht es in diesem Fall frei, bei fortbestehendem Streit über die Anwendung und Auslegung der Betriebsvereinbarung jederzeit die Arbeitsgerichte anzurufen. Einer vorherigen gesonderten Anfechtung des Spruchs bedarf es nicht.
Was bedeutet das für die Praxis?
Teilweise ist in Betriebsvereinbarungen vorgesehen, dass bei Meinungsverschiedenheiten über deren Auslegung und Anwendung eine Einigungsstelle eingesetzt werden soll. Kommt im Rahmen der Einigungsstelle keine Einigung zustande und ergeht daher ein Spruch, sehen sich die Betriebsparteien im Hinblick auf dessen fehlende Bindungswirkung am Ende meist ohnehin vor den Arbeitsgerichten wieder. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht sinnvoller, die Einigungsstelle zu „überspringen“ und den direkten Weg zu den Arbeitsgerichten einzuschlagen, insbesondere in Fällen, in denen keine Einigung zu erwarten steht? Grundsätzlich schon, allerdings ist den Betriebsparteien der direkte Weg zu den Arbeitsgerichten in den genannten Fällen leider versperrt. Denn das im Voraus vereinbarte Einigungsstellenverfahren wird von der Rechtsprechung als notwendiges außergerichtlichen Vorverfahren betrachtet. Demzufolge ist die Anrufung der Arbeitsgerichte erst zulässig, wenn dieses Vorverfahren durchgeführt wurde (vgl. BAG Beschluss vom 23.2.2016 – 1 ABR 5/14).
Der Arbeitgeber ist mithin zum Umweg über das zeit- und kostenintensive Einigungsstellenverfahren gezwungen, bei dem oftmals bereits von vornherein abzusehen ist, dass es nicht zur endgültigen Streitbeilegung führen wird. Vor diesem Hintergrund sollten sich Arbeitgeber sehr genau überlegen, ob sie Regelungen in Betriebsvereinbarungen, die die Einsetzung einer Einigungsstelle über bloße Rechtsfragen vorsehen, zustimmen.