Die Praxis kämpft bereits seit Jahren mit den Voraussetzungen von ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeigen. Von diesen Herausforderungen völlig unbeeindruckt, verschärft das Hessische Landesarbeitsgericht nunmehr die Anforderungen. Wie aus Soll-Angaben Muss-Angaben werden:
Mit seiner Entscheidung vom 25. Juni 2021 – 14 Sa 1225/20 erklärt das Hessische Landesarbeitsgericht entgegen der gängigen Praxis und ausdrücklichen Aussagen im offiziellen Merkblatt der Agentur für Arbeit, dass auch die Mitteilung der Soll-Angaben gemäß § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zwingende Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige seien.
Der Fall
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung der Arbeitgeberin. Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Arbeitgeberin seit dem 1. April 1998 tätig. In der Zeit vom 18. Juni 2019 bis zum 18. Juli 2019 kündigte die Arbeitgeberin bei Überschreitung der maßgeblichen Schwellenwerte des § 17 KSchG insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse – unter anderen das der Arbeitnehmerin.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Arbeitgeberin vor Ausspruch der Kündigungen eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erstattet hat. Unstreitig steht jedoch fest, dass der Agentur für Arbeit die Anlage zu Feld 34 der Entlassungsanzeige (Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit) erst am 23. Juli 2019 zugegangen ist.
Die Entscheidung
Das Hessische Landesarbeitsgericht entschied, die Kündigung der Arbeitnehmerin sei in Ermangelung einer wirksamen Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Absatz 1 KSchG i. V. m. § 134 BGB unwirksam.
Die Massenentlassungsanzeige der Arbeitgeberin sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, weil die Agentur für Arbeit die Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG (sog. „Soll-Angaben“) – über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu Entlassenden – nicht vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung erhielt, obwohl dies der Arbeitgeberin möglich gewesen wäre. Ob die Massenentlassungsanzeige, wie von der Arbeitgeberin behauptet, bei der Agentur für Arbeit vor Ausspruch der Kündigungen zugegangen sei, könne vor diesem Hintergrund dahinstehen.
Zur Begründung führt das Hessische Landesarbeitsgericht aus, dass die richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 3 KSchG ergebe, dass eine Massenentlassungsanzeige nur ordnungsgemäß erstattet werde, wenn sie auch die Soll-Angaben enthalte. Die europäische Massenentlassungsrichtlinie („MERL“) verlange die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben, wobei sie nicht zwischen Muss- und Soll-Angaben unterscheide. Auch die Soll-Angaben seien i. S. d. MERL zweckdienlich, um es der zuständigen Behörde zu ermöglichen, sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorzubereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einzustellen.
Die Arbeitgeberin hat gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts Revision eingelegt, die beim BAG anhängig ist (2 AZR 424/21).
Fazit
Bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung ist Arbeitgebern im Interesse der Rechtssicherheit dringend anzuraten, auch die Soll-Angaben im Rahmen ihrer Massenentlassungsanzeige aufzunehmen und diese rechtzeitig an die zuständige Agentur für Arbeit zu übermitteln. Da den Arbeitgebern nach Auffassung des Hessischen Landesarbeitsgerichts gegebenenfalls auch entsprechende Nachforschungen hinsichtlich der Soll-Angaben zuzumuten sind, sollten bei der Vorbereitung der Massenentlassungsanzeige zusätzliche Zeitfenster eingeplant werden, um alle erforderlichen Angaben zusammenstellen zu können.