Urlaub ist schön, wenn wir ihn genießen können. Ist ein Arbeitnehmer aber arbeitsunfähig krank, kann er seinen Urlaub nicht nehmen. Unter welchen Umständen verfallen Urlaubsansprüche, wenn ein Arbeitnehmer dauerhaft erkrankt ist? Aktuelle Entscheidungen zeigen: Der Teufel steckt im Detail.
Das nationale Urlaubsrecht beruht auf den Vorgaben des Europarechts. Maßgeblich für die Auslegung der Vorschriften des Bundesurlaubsgesetztes (BUrlG) sind Art. 7 der Richtline 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Grundrechte-Charta. Sofern dem BAG Sachverhalte zur Entscheidung vorliegen, die von der Auslegung der europäischen Regelungen abhängen, legt es diese Fragen regelmäßig dem EuGH zur sogenannten Vorabentscheidung vor. Das Thema Urlaub ist von gerichtlichen Einzelfallentscheidungen sehr geprägt und unterliegt der ständigen Rechtsfortbildung, insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH.
Im Überblick
- 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG sieht auf nationaler Ebene vor, dass Urlaub, der bis zum Jahresende nicht gewährt und genommen wird, verfällt; es sei denn, es findet gemäß § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr statt, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Gemäß § 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG muss übertragener Urlaub sodann in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden (Übertragungszeitraum).
- Das BAG hat entsprechend der vom EuGH damals konkret vorgegebenen unionsrechtskonformen Auslegung des 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG bereits 2019 (BAG, Urteil vom 19.2.2019 – 9 AZR 541/15) entschieden, dass der Anspruch auf Urlaub nur dann verfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer ausdrücklich auffordert, den Urlaub zu nehmen und diesen unmissverständlich und rechtzeitig darauf hinweist, dass der Urlaub verfällt, wenn er nicht bis zum Ende des Jahres bzw. dem 31.3. des Folgejahres genommen wird (siehe auch unseren Blogbeitrag vom 15.8.2019). Wir nennen das im Folgenden „Urlaubsbelehrung“.
- Gleiches gilt grundsätzlich für die Verjährung von Urlaubsansprüchen (siehe auch unsere Blogbeiträge vom 6.2022 und vom 25.10.2022).
Der Ausgangsfall
Das BAG hatte jüngst über folgenden Sachverhalt zu befinden: Der Arbeitnehmer war seit dem 18.11.2015 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.12.2019 ununterbrochen krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Pro Kalenderjahr war ein Anspruch auf 30 Tage Urlaub vereinbart, dessen Inanspruchnahme der Arbeitgeber aber nie nachgehalten hatte. Im Jahr 2015 wurden dem Arbeitnehmer 21 Urlaubstage gewährt, in den Jahren 2016, 2017, 2018 und 2019, in denen er ununterbrochen krankgeschrieben war, natürlich kein Urlaub. Es lagen also insgesamt 129 nicht in Anspruch genommene Urlaubstage im Feuer, von denen der Arbeitgeber 60 Tage, nämlich diejenigen aus den Jahren 2018 und 2019, im Wege der Urlaubsabgeltung ausbezahlte. Der Arbeitnehmer beanspruchte dagegen auch die Abgeltung des (Rest-)Urlaubes in Höhe von weiteren 69 Tagen aus den Jahren 2015 bis 2017.
Das BAG hat mit Urteil vom 7.9.2021 – 9 AZR 3/21 (A) entschieden, dass die Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers aus den Jahren 2016 und 2017 verfallen waren, und setzte den Rechtsstreit im Übrigen, bezogen auf die restlichen 9 Urlaubstage aus dem Jahr 2015, aus.
Zur Begründung führte es sinngemäß aus:
- Urlaubsansprüche können grundsätzlich (noch) nicht verfallen, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraumes (31.3. des Folgejahres) ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen.
- Dieser Urlaub kann allerdings verfallen, wenn die Arbeitsunfähigkeit nach dem Ende des Kalenderjahres, in dem er entstanden ist (Urlaubsjahr), weitere 15 Monate andauert. Besteht also die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, so gebietet das Unionsrecht grundsätzlich keine weitere Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruches. Insoweit sei der Arbeitsgeber unter Umständen vor dem Aufsummen von Urlaubsansprüchen zu schützen.
Aber: Gilt das auch, wenn der Arbeitgeber es unterlassen hat, eine Urlaubsbelehrung auszusprechen?
- Ja, sagt das BAG, wenn es sich um einen Urlaubsanspruch handelt, der aus einem Kalenderjahr stammt, in dem der Arbeitnehmer ununterbrochen krankgeschrieben war. Dann trete gewissermaßen eine überholende Kausalität ein: Es steht dann nämlich fest, dass der konkrete Urlaubsanspruch aus diesem Jahr nicht etwa deshalb nicht genommen wurde, weil der Arbeitnehmer nicht „belehrt“ wurde, sondern bereits allein deshalb, weil er eben krank war und den Urlaub nicht nehmen konnte.
- „Jein“, sagt das BAG (und setzte den Rechtsstreit mit Blick auf eine zu erwartende Klärung durch den EuGH bezogen auf die 9 Resturlaubstage für das Jahr 2015 aus), wenn es sich um einen Urlaubsanspruch aus einem Kalenderjahr handelt, in dem der Arbeitnehmer zunächst gearbeitet hat und erst im weiteren Verlauf des Jahres ununterbrochen krankgeschrieben war. Dann stehe nämlich nicht fest, ob der Arbeitnehmer bei ordnungsgemäßer Belehrung den (Rest-)Urlaub noch vor „Antritt“ seiner Dauererkrankung in Anspruch genommen hätte (!). Der EuGH könne das deshalb anders sehen.
Und, das BAG hatte wieder einmal den richtigen Riecher. Der EuGH führte nunmehr in seiner Entscheidung vom 22.9.2022 (C-518/20 und C-727/20) sinngemäß aus:
Wenn die (Dauer-)Arbeitsunfähigkeit erst im laufenden Kalenderjahr eintritt, kommt ein Verfall des Urlaubsanspruchs aus diesem Jahr (nach Ablauf weiterer 15 Monate Dauererkrankung) nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit (Urlaubsbelehrung) ordnungsgemäß nachgekommen ist.
Im Ausgangsfall führt diese Rechtsprechung des BAG und des EuGH zu folgenden konkreten Rechtsfolgen:
- Die 9 (Rest-)Urlaubstage aus 2015 waren mangels Urlaubsbelehrung abzugelten.
- Die 60 Urlaubstage aus 2016 und 2017 waren nicht abzugelten. Sie sind jeweils nach Ablauf von weiteren 15 Monaten ununterbrochener Krankheit am 31.3.2018 bzw. 31.3.2019 trotz unterlassener Urlaubsbelehrung verfallen.
- Die 60 Urlaubstage aus 2018 und 2019 waren abzugelten. Sie waren bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.12.2019 bereits mangels Ablaufes einer Dauer von weiteren 15 Monaten ununterbrochener Krankheit noch nicht verfallen.
Praxishinweis
Der Arbeitgeber sollte die Aufforderungs- und Hinweispflicht (Urlaubsbelehrungspflicht) unbedingt beachten und bestenfalls routinemäßig etablieren, also den Arbeitnehmer gebetsmühlenartig ausdrücklich auffordern, Urlaub zu nehmen und unmissverständlich und rechtzeitig darauf hinweisen, dass der Urlaub grundsätzlich verfällt, wenn er nicht bis zum Ende des Kalenderjahres bzw. bis zum 31.3. des Folgejahres genommen wird.
In Zusammenarbeit mit Jana Schön, Wiss. Mit. im Berliner Büro.