Seit über einem Jahrzehnt führt nach der Rechtsprechung des BAG fast jeder Fehler im Massenentlassungsverfahren zur automatischen Unwirksamkeit der Kündigung. Grund genug für Arbeitnehmer, die Anzeige akribisch unter die Lupe zu nehmen und sich im Kündigungsschutzverfahren auf einen noch so kleinen Fehler zu berufen.
Dass die bisher starr vertretene Unwirksamkeitsrechtsfolge mit Blick auf den Zweck des Anzeigeverfahrens möglicherweise nicht erforderlich ist, hat das BAG seither nicht wirklich thematisiert. Ganz nach dem Motto „besser spät als nie“ zeichnet sich endlich eine Abkehr von der Unwirksamkeitsrechtsfolge ab.
Derzeit anhängige Vorlageverfahren beim EuGH
Derzeit laufen gleich drei Verfahren beim BAG und EuGH zu Fehlerfolgen im Massenentlassungsrecht:
- Das BAG hatte bereits 2022 im Verfahren 6 AZR 155/21 an der starren Unwirksamkeitsrechtsfolge bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren gezweifelt. Der Arbeitgeber hatte den Betriebsrat zwar schriftlich unterrichtet, jedoch entgegen § 17 III 1 KSchG keine Abschrift dieses Unterrichtungsschreiben der Agentur für Arbeit zugeleitet. Das BAG erkundigte sich beim EuGH, ob dieser Verstoß zur Unwirksamkeit der Kündigung führen muss. Der EuGH stellte fest, dass die Übermittlungspflicht keinen Individualschutz für den gekündigten Arbeitnehmer vermittle. Siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 22. Dezember 2023).
- Im Verfahren 6 AZR 157/22 war die Massenentlassungsanzeige wegen Verkennung des Schwellenwerts gänzlich unterblieben. Das BAG entschied, dass damit gegen § 17 I KSchG verstoßen wurde, zweifelte aber an der Unwirksamkeitsrechtsfolge. Er fragte den 2. Senat, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhalten möchte, dass eine fehlerhafte oder unterlassene Anzeige zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt. Der 2. Senat wiederum stellte dem EuGH Fragen zur Auslegung der zugrundeliegenden Massenentlassungsrichtlinie, bevor er selbst Stellung zur Frage des 6. Senats bezog. Hierüber hatten wir bereits in unserem Blogbeitrag vom 29.02.2024 berichtet.
- Schließlich hat der 6. Senat am 23.05.2024 den EuGH selbst um eine Vorabentscheidung ersucht. In diesem Verfahren (6 AZR 152/22) war der Anzeige wegen des noch laufenden Konsultationsverfahrens keine Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt. Die Auslegungsfragen der beiden Senate sind weitestgehend deckungsgleich. Ergänzend hat der 6. Senat die Frage gestellt, ob neben der Entlassungssperre weitere Sanktionen für den Arbeitgeber erforderlich sind.
Unterschiedliche Rechtsfolgenansätze der BAG-Senate
Beide Senate zweifeln an der bisherigen Rechtsprechung und zielen auf eine Änderung der Unwirksamkeitsrechtsfolge bei Fehlern im Anzeigeverfahren ab. Doch die Rechtsfolgen-Ansätze der beiden Senate unterscheiden sich nicht unwesentlich voneinander.
Rechtsfolgenansatz des 2. Senats
Der 2. Senat hält eine Differenzierung zwischen gänzlichem Fehlen und bloßen Fehlern in der Anzeige für erforderlich. Fehle die Anzeige gänzlich, soll die Kündigung zwar nicht unwirksam, aber „wirkungslos“ sein. Die Kündigung soll das Arbeitsverhältnis unabhängig von der individuellen Kündigungsfrist beenden, wenn die fehlende Anzeige nachgeholt wird. Erst dann soll die einmonatige Frist für die Entlassungssperre gemäß § 18 Abs. 1 KSchG in Gang gesetzt werden.
Der 2. Senat verfolgt hiermit ein gänzlich neues Konzept einer wirksamen Kündigung mit gehemmter Rechtswirkung. Auch wenn der Ansatz dem Grunde nach zu begrüßen ist, stellen sich viele Folgefragen, insbesondere bis wann die Anzeige nachgeholt werden kann. Wird das Fehlen – wie in der Praxis zu befürchten – erst sehr spät bemerkt, muss der Arbeitgeber aufgrund des zwar gekündigten, aber bis zur nachgeholten Anzeige bestehenden Arbeitsverhältnisses die Vergütung rückwirkend bezahlen.
Rechtsfolgenansatz des 6. Senats
Der 6. Senat tendiert dazu, die Möglichkeit einer Korrektur bzw. Nachholung der Anzeige zu verneinen. Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige soll sich jedoch nicht mehr auf die Wirksamkeit der Kündigung auswirken, weil die Vorschriften allein arbeitsmarktpolitische Zwecke verfolgen und gerade keinen individualschützenden Charakter haben. Die Massenentlassungsanzeige dient der Arbeitsagentur und nicht dem gekündigten Arbeitnehmer. Die Arbeitsagentur soll ausreichend Zeit erhalten, um Arbeitsvermittlungsmaßnahmen vorzubereiten.
Mit diesem Zweck vor Augen benennt der 6. Senat die Hemmung der Kündigungsfrist als mögliche Sanktion bei Fehlern. Wenn wegen fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige die Arbeitsagentur ihre Aufgabe nicht oder nur eingeschränkt verrichten kann, könne als Sanktion zumindest eine Verlängerung des Bestands des Arbeitsverhältnisses in Betracht kommen. Diese Rechtsfolge würde der Arbeitsagentur einerseits mehr Zeit verschaffen und hätte andererseits ausreichende Sanktionswirkung für den Arbeitgeber, der länger zur Beschäftigung der Arbeitnehmer verpflichtet werde.
Die Hemmung der Kündigungsfrist müsse aber zeitlich begrenzt werden, um die unternehmerische Entscheidungsfreiheit unangetastet zu lassen. In Anlehnung an die Massenentlassungs-Richtlinie könne bei fehlender Anzeige eine Hemmung von 60 Tagen und bei fehlerhafter Anzeige von 30 Tagen angedacht werden.
Was sollten Arbeitgeber in dieser Zwischenzeit beachten?
Kann auf eine baldige Reformation des Sanktionssystems bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren gehofft werden? Dies hängt davon ab, wie sich der EuGH zu den Auslegungsfragen positioniert. Auch wenn eine Abkehr vom strengen Sanktionssystem zu erwarten ist, ist aktuell eine Entwarnung für Arbeitgeber nicht möglich.
Bis zur Rechtsprechungsänderung kann es noch dauern. In der Zwischenzeit sollte bei der Erstellung von Massenentlassungsanzeigen weiterhin höchste Sorgfalt walten. Insbesondere bleibt es – unabhängig von der Entscheidung des EuGH – bei der Unterscheidung zwischen Fehlern im Konsultations- und Anzeigeverfahren.
- Sowohl BAG als auch EuGH sind sich einig, dass dem Konsultationsverfahren individualschützende Funktion zukommt, sodass dortige Fehler weiterhin die Unwirksamkeit der Kündigungen zur Folge haben. Der Betriebsrat ist also weiterhin umfassend über die in § 17 II KSchG genannten Gründe zu unterrichten.
- Bis Rechtsklarheit herrscht ist auf eine ordnungsgemäße Durchführung des Anzeigeverfahrens zu achten. Insbesondere die Muss-Angaben müssen in der Anzeige enthalten sein. Fehlende Soll-Angaben gem. § 17 III 5 KSchG sind hingegen unschädlich. Die Fehleranfälligkeit und die weitreichenden Konsequenzen machen auch weiterhin eine rechtliche Beratung unabdingbar. Nur im Einzelfall und nach intensiver rechtlicher Begutachtung kann von der Erstattung der Massenentlassungsanzeige abgesehen werden.
Dieser Beitrag ist mit freundlicher Unterstützung von Julia Amann (Referendarin im Münchner Büro) entstanden.