Der EuGH hat eine Pflicht zur Nachholung eines Verhandlungsverfahrens bei arbeitnehmerlos gegründeten Europäischen Aktiengesellschaften (SE) abgelehnt. Europäisches Recht sehe die Durchführung des Verhandlungsverfahrens mit Vertretern der Arbeitnehmer ausschließlich bei der Gründung der SE – vor ihrer Eintragung ins Register – vor, nicht aber danach. Damit widerspricht der EuGH der Rechtsprechung einzelner inländischer Instanzgerichte (z. B. OLG Düsseldorf vom 30.3.2009) und einem großen Teil der Beratungspraxis.
Die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, kurz: SE) ist eine beliebte europaweit anerkannte kapitalmarktfähige Rechtsform. Sie bietet Flexibilität, zwischen unterschiedlichen Strukturen der Unternehmensverwaltung zu wählen (dualistisch mit Vorstand und Aufsichtsrat wie die deutsche AG oder monistisch wie in anderen Rechtsordnungen).
Ein weiteres Argument für die SE insbesondere aus Sicht international ausgerichteter Unternehmensgruppen ist, dass auch SE mit Sitz in Deutschland nicht den lokalen Mitbestimmungsgesetzen (insbesondere dem Mitbestimmungsgesetz und dem Drittelbeteiligungsgesetz) unterliegen, sondern die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsrat oder Verwaltungsorgan der Gesellschaft flexibler und vor allem international gestaltet werden kann. In einer SE mit Sitz in Deutschland können deshalb nicht nur Arbeitnehmervertreter aus dem Inland, sondern auch aus dem Ausland im Aufsichtsrat die Mitarbeiterinteressen vertreten.
Schutz der Unternehmensmitbestimmung durch Verhandlungsverfahren
Arbeitnehmervertretungen bewerten die Flexibilität bei der Gestaltung von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer jedoch oft kritisch. Sie monierten, dass die SE genutzt würde, um Mitbestimmungsrechte zu umgehen. Der verringerte Einfluss inländischer Arbeitnehmervertreter in einem internationalen Gremium verstärkt die Skepsis.
Einem Verlust von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer soll jedoch gerade durch ein Verhandlungsverfahren im Zuge der SE-Gründung begegnet werden. Dieses Verfahren, das in der europäischen SE-Richtlinie geregelt und für SE-Gründungen in Deutschland im SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) umgesetzt ist, besteht aus
- der Wahl eines sogenannten besonderen Verhandlungsgremiums (bVG) der Arbeitnehmer, das entsprechend den Mitarbeiterzahlen in den Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums international besetzt ist, und
- Verhandlungen des bVG und der Unternehmensleitung über den Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung.
Gegenstand der Beteiligungsvereinbarung sind neben der Errichtung eines SE-Betriebsrats mit Informations- und Anhörungsrechten u.a. das „Ob“ und „Wie“ der Mitbestimmung von Arbeitnehmervertretern im Aufsichts- oder Verwaltungsrat der SE. Im Grundsatz haben bVG und Unternehmensleitung sechs Monate Zeit, sich hierüber zu einigen. Scheitern die Verhandlungen, kommen gesetzliche Auffangregelungen zum SE-Betriebsrat und zur Unternehmensmitbestimmung im Aufsichts- oder Verwaltungsrat zur Anwendung.
Zum Schutz bestehender Beteiligungsrechte richten sich die Unternehmensmitbestimmung nach den Auffangregeln nach dem Stand der Unternehmensmitbestimmung in den an der SE-Gründung beteiligten Gesellschaften (sog. „Vorher-Nachher-Prinzip“). Liegen die Voraussetzungen für Unternehmensmitbestimmung in den Gründungsgesellschaften nicht vor, ist auch die SE nicht mitbestimmt.
Verhandlungsverfahren als Voraussetzung für die Eintragung der SE im Handelsregister
Eine SE kann grundsätzlich erst dann ins Handelsregister eingetragen werden und am Rechtsverkehr teilnehmen, wenn das Verhandlungsverfahren abgeschlossen worden ist. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die Gründungsgesellschaften und etwaige Tochtergesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigen, so dass die Bildung eines bVG der Arbeitnehmer und Verhandlungen von Arbeitnehmervertretern ausscheiden.
Muss das Verhandlungsverfahren aber zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden, sobald die SE oder ihre Konzerngesellschaften Arbeitnehmer beschäftigen? Mit dieser Frage hatten sich das BAG und auf dessen Vorlage hin auch der EuGH zu befassen.
Der Fall: Arbeitnehmerlos gegründete SE wird Gesellschafterin einer drittelbeteiligten GmbH
Im zugrunde liegenden Fall stritten der Vorstand einer SE und der Konzernbetriebsrat über die Frage, ob ein Verhandlungsverfahren nachgeholt werden muss, wenn eine Holding-SE ohne Durchführung eines Verhandlungsverfahrens von arbeitnehmerlosen Gründungsgesellschaften gegründet wird und unmittelbar im Anschluss Gesellschafterin einer dem Drittelbeteiligungsgesetz unterliegenden GmbH wird.
BAG: Keine unmittelbare gesetzliche Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens
Das Bundesarbeitsgericht stellte in seinem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 17.5.2022 klar, dass sich eine Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens nicht unmittelbar aus dem Gesetz – konkret dem SEBG – ergebe. Eine Pflicht zur Nachholung komme nur im Fall einer analogen Gesetzesanwendung in Betracht, die eine planwidrige Regelungslücke voraussetze.
Eine planwidrige Regelungslücke sei jedoch lediglich dann anzunehmen, wenn eine Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens im europäischen Recht verankert sei. Diese Frage, ob das europäische Recht eine Nachholung des Verhandlungsverfahrens vorschreibe, legte das BAG dem EuGH vor.
EuGH: Auch europäisches Recht kennt keine nachträgliche Verhandlungspflicht
Mit seinem Urteil vom 16.5.2024 hat der EuGH eine Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens auf Grundlage europäischen Rechts abgelehnt. Europäisches Recht sehe die Durchführung des Verhandlungsverfahrens ausschließlich bei der Gründung der SE und vor ihrer Eintragung vor – nicht danach. Dem liege auch kein Versehen zugrunde, sondern eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, der einen Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip habe finden müssen.
Auch unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Verfahrensmissbrauchs lasse sich keine Verpflichtung zur nachträglichen Einleitung des Verhandlungsverfahrens aus dem Unionsrecht ableiten. Insoweit belasse das europäische Recht den Mitgliedstaaten – in den Grenzen des Unionsrechts – einen Wertungsspielraum in Bezug auf die Auswahl der zu ergreifenden Maßnahmen.
Auswirkungen der Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH wirkt über den konkreten Fall hinaus. Auch bei der Verwendung einer arbeitnehmerlosen Vorrats-SE, die zu einem späteren Zeitpunkt – bspw. durch Erwerb einer operativen Gesellschaft – wirtschaftlich „aktiviert“ wird, ist ein Verhandlungsverfahren nach der Argumentation des EuGH nicht nachzuholen. Die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens kann sich auch künftig trotzdem als sinnvoll erweisen. Es ermöglicht den Abschluss einer maßgeschneiderten Beteiligungslösung und kann Vorwürfen eines Missbrauchs der Rechtsform und Unzufriedenheit unter den Arbeitnehmern entgegenwirken.