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Scheinselbständigkeit „über den Wolken“

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Die Risiken der Scheinselbständigkeit im Falle der falschen Einordnung eines Vertragsverhältnisses als selbständige Tätigkeit sind hoch. Erst kürzlich hat sich das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 23.04.2024 – B 12 BA 9/22) erneut mit dem sozialversicherungsrechtlichen Status eines vermeintlichen Freelancers befasst, der sich am Ende doch als abhängig Beschäftigter im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV erwies. Diesmal ging es um den (speziellen) Fall eines Piloten. Die Entscheidung entspricht der strengen Linie der Rechtsprechung des BSG.

Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Beachtung der Abgrenzungskriterien der Rechtsprechung wird vor dem Hintergrund des Urteils des BSG noch einmal offenbar. Wie der Fall des BSG eindrücklich zeigt, kann sich auch ein im Hinblick auf die Abgrenzungskriterien vermeintlich eindeutiger Sachverhalt durch die von Seiten der Behörden bzw. des Gerichts stärkere Gewichtung einzelner Belange schnell in das gegenteilige Ergebnis umkehren. So wird das BSG nicht müde zu betonen, dass sich die Abgrenzung nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder vornehmen lasse. Demgemäß kann auch ein und derselbe Beruf – je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen und der gelebten Praxis – entweder in Form der Beschäftigung oder als selbständige Tätigkeit ausgeübt werden.

Abgrenzungskriterien der Rechtsprechung

In unseren Blog-Beiträgen vom 01.09.2021 und 14.08.2018 haben wir bereits auf die gravierenden Konsequenzen hingewiesen, die aus einer Falscheinordnung eines Vertragsverhältnisses als selbständige Tätigkeit resultieren können. Insbesondere für die Arbeitgeberseite drohen nicht nur arbeitsrechtliche, sondern auch sozial, steuer- und unter Umständen strafrechtliche Konsequenzen.

Nach § 7 Abs. 1 SGB IV ist eine (sozialversicherungspflichtige) Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Maßgebliches (abstraktes) Kriterium ist nach ständiger Rechtsprechung eine persönliche Abhängigkeit des Mitarbeitenden, d.h. eine

  • Eingliederung in den Betrieb und
  • eine Weisungsgebundenheit gegenüber dem Auftraggeber in zeitlicher und örtlicher Hinsicht sowie nach der Art der Ausführung.

Demgegenüber ist die selbständige Tätigkeit vornehmlich gekennzeichnet durch

  • das eigene Unternehmerrisiko,
  • das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte,
  • die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und
  • die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit.

Ausschlaggebend ist jeweils die tatsächliche Vertragsdurchführung, soweit das Vertragsverhältnis abweichend von ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarungen umgesetzt wird, sich also beide widersprechen.

Die Abgrenzung nimmt die Rechtsprechung anhand einer Gesamtwürdigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalls vor. Tückisch ist – und dies zeigt sich auch in dem vom BSG nunmehr entschieden Fall –, dass das Vorliegen eines, mehrerer oder der Mehrzahl der entsprechenden Kriterien nicht zwingend für oder gegen ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechen muss. Im Zweifelsfalle kann auch schon das Vorliegen von einem (gewichtigen) Indiz eine Scheinselbständigkeit begründen.

Zur Entscheidung des BSG

Die Entscheidung des BSG drehte sich um die Versicherungspflicht eines Piloten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ein Unternehmen, das neben Kraftfahrzeugen auch über ein Flugzeug verfügte, beschäftigte einen Piloten als „Freelancer“. Zeitpunkt, Dauer, Art und Umfang eines jeden Einsatzes waren im Einzelfall zwischen beiden Seiten vereinbart worden, wobei der Pilot berechtigt war, die Durchführung einzelner Flüge abzulehnen. Zudem unterlag er keinen Weisungsbefugnissen und war nicht verpflichtet, Flüge persönlich durchzuführen. Der Pilot erhielt eine Vergütung je Einsatztag und musste auch nicht exklusiv nur für dieses Unternehmen fliegen. Wenngleich das Vorstehende gegen wohl eher eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung spricht, war Knackpunkt für das BSG, dass dem Piloten das Flugzeug vollgetankt zur Verfügung gestellt wurde, wohingegen weitere Arbeitsmittel nicht benötigt wurden.

Nachdem die erste Instanz ein sozialversicherungspflichtiges abhängiges Beschäftigungsverhältnis des Piloten noch verneint hatte, bejahte das Hessische Landessozialgericht (Hessisches LSG, Urteil vom 29.09.2022 – L 8 BA 65/21) ein solches. Die letztgenannte Ansicht hat nun auch das BSG bestätigt. Von wesentlicher Bedeutung war für das BSG der Umstand, dass der Pilot ausschließlich Betriebsmittel seines Arbeitgebers, nämlich dessen Flugzeug, genutzt habe – eine Sachverhaltskonstellation, die bei Piloten häufiger anzutreffen sein wird.

Mit seinem Urteil verfolgt das BSG seine zunehmend strengere Rechtsprechungslinie weiter. Dabei wendet es sich nicht nur von seiner bisherigen Rechtsprechung ab, nach der Flugzeugführer im Rahmen einer Gesamtabwägung noch als Freelancer beurteilt werden konnten, und die Tatsache, dass sie nicht ihre eigenen Flugzeuge nutzten, nicht als abwägungserheblich angesehen wurde (BSG, Urteil vom 28.05.2008 – B 12 KR 13/07 R). Das BSG schließt damit den Pilotenberuf faktisch von der Möglichkeit einer selbständigen Beschäftigung aus, jedenfalls, soweit das Flugzeug dem Piloten als Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt wird. Einem kostenintensiven Arbeitsmittel wie einem Flugzeug eine solch abwägungserhebliche Bedeutung beizumessen, erscheint engstirnig, was wohl auch erklärt, weshalb die Arbeitsgerichtsbarkeit in entsprechenden Konstellationen weitaus zurückhaltender ist (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 20.08.2020 – 5 Sa 614/20).

Ausblick

Wer ein Vertragsverhältnis auf Basis einer selbständigen Tätigkeit (Freelancer) ausgestalten möchte, sollte weiterhin bzw. vermehrt sowohl in der Vertragsgestaltung als auch in der gelebten Praxis umsichtig agieren, um ungewollt sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu vermeiden. Zukünftig wird sich zeigen, ob das BSG im Rahmen seiner Abwägung der Nutzung von Betriebsmitteln des Arbeitgebers weiterhin eine derart herausgehobene Stellung einräumt oder es sich vorliegend nur um das „Zünglein an der Waage“ handelte. Der Gestaltungsspielraum für Unternehmer und deren Mitarbeiter ist jedenfalls abermals kleiner geworden.

Jutta Heidisch

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Counsel
Jutta Heidisch berät deutsche und internationale Unternehmen sowie Führungskräfte in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Schwerpunkte sind die Beratung bei Umstrukturierungen, betriebsverfassungs- und tarifrechtlichen Fragestellungen sowie die Vertretung von Mandanten in arbeitsgerichtlichen Urteils- und Beschlussverfahren in sämtlichen Instanzen. Besondere Expertise besitzt Jutta Heidisch außerdem im Arbeitskampfrecht sowie Fremdpersonaleinsatz in Unternehmen. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "Aufsichtsratsberatung".
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