Rechtzeitig zu den Silvester-Vorbereitungen lesen Sie hier unseren Jahresrückblick auf eine kleine Auswahl an beachtenswerten und für das Arbeitsrecht relevanten Urteilen. Besonders bewegt haben uns im Jahr 2024: Schadensersatzforderungen nach DSGVO-Auskunftsverlangen, Zielvereinbarungs-Boni, Überstundenvergütungen von Teilzeitkräften, die Konzernleihe sowie entschädigungsfreie Wettbewerbsverbote.
Top 1 – Auskunftsverlangen nach Art. 15 DSGVO – Schadensersatzrisiko entschärft
Schadensersatzforderungen des Arbeitnehmers wegen eines angeblichen Datenschutzverstoßes des Arbeitgebers waren ein beliebtes Instrument, um im Arbeitsgerichtsprozess Druck auf den Arbeitgeber auszuüben. Das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 20. Juni 2024 – 8 AZR 124/23) und der Europäische Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 11. April 2024 – C-741/21) haben im Jahr 2024 klargestellt: Der Anspruchssteller hat nicht nur den Datenschutzverstoß, sondern auch einen konkreten Schaden darzulegen, um in den Genuss eines Schadensersatzanspruches zu kommen. Bei der Bemessung der Schadenshöhe spielt ein Strafcharakter keine Rolle, sondern es geht um den Ausgleich konkreter materieller oder immaterieller Nachteile.
Eine mögliche Diskriminierung, ein Identitätsdiebstahl oder eine Rufschädigung können beispielsweise einen ersatzfähigen immateriellen Schaden darstellen. Auch der Verlust der Kontrolle über die personenbezogenen Daten fällt unter die immateriellen Schäden. Die einfache Behauptung eines DSGVO-Verstoßes führt jedoch nicht länger zu einer Entschädigung.
Vor der höchstrichterlichen Klarstellung gehörte ein Auskunftsverlangen nach Art. 15 DSGVO und eine Schadensersatzforderung zum Standardrepertoire einer Trennungsstreitigkeit und sorgten in Personalabteilungen regelrecht für Stress. Arbeitsgerichte sprachen bei verfristeten oder unvollständigen Auskünften vier- und fünfstellige Schadensersatzsummen als Sanktion zu, ohne einen konkreten kausalen Schaden zu fordern. Diesem „Druckmittel“ dürfte mit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nun deutlich die Luft ausgegangen sein.
Siehe Beitrag: Schadensersatz nach der DSGVO – wer beweist was?
Top 2 – Verhandlungspflicht bei Zielvereinbarungs-Boni
Der anstehende Jahreswechsel bringt in vielen Unternehmen Gespräche über Zielvereinbarungen – und oft auch Streitigkeiten darüber – mit sich. Dabei setzen Arbeitgeber auf SMARTe Ziele, die spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert sind.
Aber was passiert, wenn keine Einigung erzielt wird? Bisher war eine arbeitsvertraglich vereinbarte „Auffanglösung“ üblich: Scheiterten die Verhandlungen, durfte der Arbeitgeber die Ziele einseitig vorgeben. Doch das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 3. Juli 2024 – 10 AZR 171/23) hat einen schnellen Wechsel von Zielvereinbarung auf eine einseitige Zielvorgabe eingeschränkt.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass Klauseln, die ohne weitere Voraussetzungen von einer Zielvereinbarung zu einer Zielvorgabe wechseln, nach AGB-Recht unwirksam sind. Der Grund: Solche Klauseln ermöglichen es Arbeitgebern, Verhandlungen grundlos zu verweigern oder abzubrechen. Arbeitgeber müssen daher echte Verhandlungen führen und realistische, ernsthaft verhandelbare Ziele anbieten.
Unternehmen stehen damit vor einer neuen Herausforderung. Die Entscheidung schafft zwar Schutz vor „Scheingesprächen“, führt aber auch zu Rechtsunsicherheiten und einem höheren administrativen Aufwand. Unternehmen müssen jetzt ihre „Auffanglösungen“ umgestalten und Gespräche und Einigungsversuche exakt dokumentieren. Eine Alternative besteht darin, zukünftig statt Zielvereinbarungsklauseln mit „Auffanglösung“ reine Zielvorgabeklauseln im Arbeitsvertrag zu vereinbaren.
Siehe Beitrag: Streit um den Bonus – Von der Zielvereinbarung zur Zielvorgabe?
Top 3 – Überstundenzuschläge für Teilzeitkräfte ab der ersten Überstunde
Tarifverträge sehen häufig vor, dass Arbeitnehmer Zuschläge nicht für jede Stunde über der vertraglichen Arbeitszeit hinaus verdienen, sondern erst ab einer zu erreichenden absoluten Grenze. Das Bundesarbeitsgericht urteilte nun, dass Teilzeitbeschäftigte bereits ab der ersten Überstunde einen Anspruch auf Zuschläge haben, wenn auch Vollzeitkräfte solche Zuschläge erhalten und keine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung vorliegt (BAG, Urteil vom 5. Dezember 2024 – 8 AZR 370/20). Das Bundesarbeitsgericht setze damit ein Urteil des Europäischen Gerichtshof aus dem Jahr 2023 um (EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2023 – C-660/20).
Im entschiedenen Fall gewährte eine tarifvertragliche Regelung allen Arbeitnehmern ab der 41. Wochenstunde einen Zuschlag, sodass Vollzeitkräfte mit der ersten Stunde über ihrer vertraglichen Wochenarbeitszeit den Zuschlag erhielten und Teilzeitkräfte, mit einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden, zunächst 20 Stunden „aufholen“ mussten, um einen Zuschlag für die 41. Wochenstunde zu verdienen.
Weiterhin sah das Bundesarbeitsgericht in der tarifvertraglichen Regelung auch noch eine mittelbare Benachteiligung von Frauen, da Teilzeitbeschäftigte überwiegend weiblich sind. Im konkreten Fall sprach das Gericht der betroffenen Arbeitnehmerin noch neben der Gutschrift der Zuschläge eine zusätzliche Entschädigung für die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts von EUR 250,00 zu.
Siehe Beitrag: Double discrimination against part-time workers
Top 4 – Einschränkung des Privilegs bei Konzernleihe („und“ bedeutet „oder“)
Die sogenannte Konzernleihe ermöglicht Unternehmen eine flexible und wirtschaftliche Personalplanung, da sie durch das Konzernprivileg (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG) von vielen Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ausgenommen ist. Dieses Privileg gilt jedoch nur, wenn Arbeitnehmer nicht „zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt“ werden. Eine unsachgemäße Anwendung birgt rechtliche Risiken, wie Bußgelder bis zu 30.000 Euro bei fehlender Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis oder die Entstehung eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Entleiher, falls AÜG-Vorgaben nicht eingehalten werden.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass „und“ als „oder“ zu lesen ist (BAG, Urteil vom 12. November 2024 – 9 AZR 13/24). Damit entfällt das Konzernprivileg bereits, wenn Arbeitnehmer entweder zum Zweck der Überlassung eingestellt oder nach Einstellung zu diesem Zweck beschäftigt werden. Insbesondere im Falle von langfristigen Einsätzen bei Konzernunternehmen nimmt das Bundesarbeitsgericht eine Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung an.
Unternehmen müssen sicherstellen, dass interne Überlassungen nur für konkrete Projekte oder temporäre Einsätze erfolgen und die Rückkehr zu den regulären Aufgaben beim ursprünglichen Arbeitgeber gewährleistet ist. Bestehende Strukturen sollten überprüft werden, um den Anforderungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu entsprechen, wenn das Konzernprivileg nicht greift. Trotz der Einschränkungen durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts bleibt die Konzernleihe für spezifische Einsatzfälle weiterhin möglich, erfordert jedoch eine sorgfältige Planung.
Siehe Beitrag: Beschränkung des Konzernprivilegs („und“ meint „oder“)
Top 5 – auch ohne Karenz möglich: nachvertragliche Wettbewerbsverbote mit Organmitgliedern
Während nachvertragliche Wettbewerbsverbote mit Arbeitnehmern nach § 74 Abs. 2 HGB ausschließlich unter Zusage einer Karenzentschädigung verbindlich sind, existiert für Geschäftsführer und Vorstände keine gesetzliche Pflicht zur Zahlung einer Karenzentschädigung.
Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 2024 im Rahmen einer Entscheidung zu einem nachträglichen Wegfall der Karenzentschädigung klargestellt, dass die Wirksamkeit eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots mit Organmitgliedern nicht von der Zahlung einer Karenzentschädigung abhängt (BGH, Urteil vom 23. April 2024 – II ZR 99/22). Auch ein umfassendes jedoch entschädigungsloses nachvertragliches Wettbewerbsverbot ist nicht sittenwidrig.
Wichtig ist jedoch weiterhin, dass die Wettbewerbsbeschränkung dem berechtigten Interesse des Unternehmens entspricht und inhaltlich auf dieses Interesse beschränkt ist. Regelmäßig wird ein Organmitglied ein erheblich einschränkendes nachvertragliches Wettbewerbsverbot ohne Kompensation nicht akzeptieren; die Entscheidung des Bundesgerichtshofs eröffnet jedoch mehr Spielraum für individuelle Lösungen.
Siehe Beitrag: Nachvertragliches Wettbewerbsverbot – bei Organmitgliedern auch ohne Karenzentschädigung möglich