Laut der Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamtes arbeiteten 4,6 % der Arbeitnehmer im Jahr 2023 nachts, d.h. in der Zeit von 23 Uhr bis 6 Uhr (§ 2 ArbZG). Tarifverträge sehen für diese Nachtarbeit in der Regel die Zahlung von Zuschlägen vor, wobei für deren Höhe oftmals zwischen unregelmäßiger, anlassbezogener Nachtarbeit und regelmäßig zu leistender Nachtschichtarbeit unterschieden wird. Diese Differenzierung beschäftigt das Bundesarbeitsgericht schon seit längerer Zeit – in der gerichtlichen Praxis hat sich dabei die Vornahme von „Anpassungen nach oben“ etabliert, um den Gleichlauf beider Zuschlagshöhen zu erreichen.
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch nunmehr (Beschluss vom 11. Dezember 2024 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23) festgestellt, dass zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts, in denen eben diese „Anpassung nach oben“ der tariflichen Zuschlagsregelungen vorgenommen wurde, die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien in verfassungswidriger Weise verletzen. Daher soll dieser Beitrag insbesondere beleuchten, mit welchen Erwägungen das Bundesverfassungsgericht den bundesarbeitsgerichtlichen Entscheidungen einen Riegel vorschiebt – mit der Folge, dass sogar doppelt so hohe Zuschläge für die ausnahmsweise anfallende Nachtarbeit im Vergleich zu Zuschlägen für regelmäßig anfallende Arbeit in Nachtschicht von dem durch die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährten weiten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt sein können.
Hintergrund und Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts
Bereits in dem unserem Blog-Beitrag vom 27. März 2023 (Der fortwährende Streit um Nachtarbeitszuschläge und ihre Höhe – das BAG bringt Licht ins Dunkel – Kliemt.blog) zugrundeliegenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22. Februar 2023 (10 AZR 332/20) entschied das Bundesarbeitsgericht, dass unterschiedlich hohe Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit dann nicht gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstießen, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben und dieser auch im Tarifvertrag erkennbar sei. Einen solchen Zweck sah das Bundesarbeitsgericht hier in dem Ausgleich der zusätzlichen Belastungen aufgrund der schlechteren Planbarkeit unregelmäßiger Nachtarbeit, welcher sich aus dem erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien ergebe.
Dieser Argumentation blieb das Bundesarbeitsgericht auch in seinen Entscheidungen vom 9. Dezember 2020 (10 AZR 335/20) sowie vom 22. März 2023 (10 AZR 600/20) treu. In diesen Fällen stritten zwei verbandsagehörige Arbeitgeberinnen mit ihren Arbeitnehmern ebenfalls um die Höhe tariflicher Nachtzuschläge.
Nach den anzuwendenden Tarifverträgen erhielten Arbeitnehmer für ihre nur sporadisch anfallende Tätigkeit zur Nachtzeit (Nachtarbeit) einen Zuschlag von 50 %, während für die regelmäßig ausgelegte Arbeit in der Nachtschicht (Nachtschichtarbeit) lediglich ein Zuschlag von 25 % gewährt wurde. Die der tarifschließenden Gewerkschaft angehörigen und in Nachtschicht arbeitenden Kläger verklagten ihre Arbeitgeberinnen daher auf Zahlung eines höheren als des tariflich vorgesehenen Zuschlags für Nachtschichtarbeit.
Das Bundesarbeitsgericht gab den klagenden Arbeitnehmern in der Revisionsinstanz Recht und verurteilte die Arbeitgeberinnen jeweils zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die in Nachtschichtarbeit beschäftigten Kläger.
Laut des Bundesarbeitsgerichts seien die differenzierenden Regelungen für Nachtarbeitszuschläge – die beide an die tarifvertraglich definierte Nachtzeit anknüpfen – mit dem Grundsatz auf Gleichbehandlung des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Denn es sei kein auf einem sachlichen Grund beruhender Zweck für die doppelte Höhe des Zuschlags für Nachtarbeit im Vergleich zur Nachtschichtarbeit ersichtlich. Gründe, die keinen Niederschlag im Tarifvertrag gefunden haben, seien nicht zu berücksichtigen. Zur Beseitigung dieser Ungleichbehandlung habe eine „Anpassung nach oben“ der tariflichen Zuschlagsregelungen zu erfolgen, so dass auch für die benachteiligte Nachtschichtarbeit die höheren Nachtarbeitszuschläge zu zahlen seien.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Die beiden Arbeitgeberinnen legten daraufhin erfolgreich Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, welches die Urteile des Bundesarbeitsgerichts bemerkenswerterweise aufhob und die Sachen zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückverwies.
Es stützt seine Entscheidung dabei im Wesentlichen auf die folgenden Erwägungen:
- Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts verletzen die den Tarifvertragsparteien zustehende Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG, da die Koalitionsfreiheit nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt wurde.
- Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit wird nicht schrankenlos gewährleistet, so dass Begrenzungen – insbesondere durch die Bindung der Tarifvertragsparteien an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG – durchaus möglich sind.
- Die Festlegung von Zuschlägen zur Vergütung von Nacht- bzw. Nachtschichtarbeit fällt jedoch in den Kernbereich der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Zum Schutze dessen ist die gerichtliche Kontrollmöglichkeit daher auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Diesen Kontrollmaßstab hat das Bundesarbeitsgericht bei der Prüfung der Tarifverträge gleich in mehrfacher Hinsicht verletzt.
- Denn für die vorgenommenen tariflichen Differenzierungen zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit seien sachliche Gründe in Gestalt der unterschiedlichen sozialen Belastungen infolge der unterschiedlichen Planbarkeit, der Verteuerung von Nachtarbeit für den Arbeitgeber sowie der möglichen Motivation zur Erbringung von Nachtarbeit aufgrund des erhöhten Zuschlags objektiv erkennbar – unabhängig davon, ob sie Eingang in den Tarifvertragstext gefunden hätten.
- Das Bundesarbeitsgericht habe sich ferner in verfassungswidriger Weise über die primäre Korrekturkompetenz der Tarifvertragsparteien hinweggesetzt, indem es „Anpassungen nach oben“ selbst vorgenommen habe. Die Vornahme etwaiger Änderungen der Tarifverträge stehe hingegen primär den Tarifvertragsparteien zu, so dass ihnen im Falle eines festgestellten Gleichheitsverstoßes zunächst die Chance zur tarifvertraglichen Korrektur gegeben werden müsse.
- Die Gerichte selbst seien zu einer solchen Vornahme von „Anpassungen nach oben“ im Falle der Gleichheitswidrigkeit von Tarifnormen allein dann berechtigt, wenn das Entschließungs- und Auswahlermessen der Tarifvertragsparteien auf eben diese eine Gestaltungsmöglichkeit reduziert sei. Diese gerichtliche Folgenbeseitigung komme dann jedoch regelmäßig nicht für die Zukunft, sondern allenfalls für die Vergangenheit in Betracht.
Fazit und praktische Relevanz
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterstreicht die umfangreiche Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien und drängt die insoweit überbordende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wieder in die gebotenen Schranken zurück. Der Fokus liegt hier insbesondere auf der Klarstellung, dass die gerichtliche Kontrollmöglichkeit zum Schutze der Tarifautonomie auf eine reine Willkürkontrolle beschränkt ist – was die obersten Arbeitsrichter nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts rechtlich unzutreffend umgesetzt haben.
Ganz im Sinne der Tarifparteien betont das Bundesverfassungsgericht ihre primäre Korrekturkompetenz und schiebt den gerichtlich praktizierten „Anpassungen nach oben“ bei unterschiedlichen Höhen von Zuschlägen für Nacht- und Nachtschichtarbeit einen Riegel vor. Dies dürfte das allgemeine Vertrauen auf die Verbindlichkeit tariflicher Regelungen stärken. Es bleibt daher mit Spannung abzuwarten, wie das Bundesarbeitsgericht den Beschluss nunmehr umsetzen wird.