Die Europäische Gesellschaft (Societas Europaea, kurz: SE) erfreut sich seit knapp 20 Jahren immer größerer Beliebtheit. Nicht nur spiegelt sie eine europäische Internationalität wider. Sie erlaubt auch eine größere Flexibilität im Hinblick auf die Strukturen der Unternehmensverwaltung (dualistisch mit Vorstand und Aufsichtsrat wie die deutsche AG oder monistisch wie in anderen Rechtsordnungen).
In vielen Fällen wird die SE auch eingesetzt, um nicht den lokalen Mitbestimmungsgesetzen zu unterliegen – insbesondere dem deutschen Mitbestimmungsgesetz und dem Drittelbeteiligungsgesetz. Stattdessen sollen die Regelungen zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsrat oder Verwaltungsorgan der Gesellschaft flexibler gestaltet werden.
Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren als Voraussetzung der Eintragung einer SE
Die Regelungen zur Vertretung der Arbeitnehmerinteressen werden im Rahmen eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren zwischen der Leitung des Unternehmens und dem sogenannten besonderen Verhandlungsgremium vereinbart. Das besondere Verhandlungsgremium setzt sich aus Arbeitnehmervertretern aller europäischen Länder zusammen, in denen die Gründungsgesellschaften Arbeitnehmer beschäftigen. Die Verhandlungen über die Modalitäten der Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE ist eng mit der Gründung einer SE und ihrer Eintragung verbunden. Ohne Nachweis des Beteiligungsverfahrens erfolgt keine Eintragung einer SE im Handelsregister.
Keine Nachholung des Beteiligungsverfahrens
In einigen Fällen ist ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren allerdings nicht notwendig. Dies hat nach dem EuGH nun auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden:
Grundlage durch den EuGH
Der EuGH hatte zunächst in seinem Urteil vom 16. Mai 2024 (EUR-Lex – 62022CJ0706 – EN – EUR-Lex) bestätigt, dass eine SE, die bei Gründung keine Arbeitnehmer beschäftigt, auch kein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchlaufen muss. Sie kann trotzdem in das Handelsregister eingetragen werden. Dieses Vorgehen hat sich in der Praxis bereits mit der Einrichtung von arbeitnehmerlosen Vorrats-SE etabliert. Die Bestätigung der Praxis durch den EuGH war insofern hilfreich, aber nicht unerwartet.
Unerwartet war hingegen die Aussage der europäischen Richter, dass ein Beteiligungsverfahren auch dann nicht nachzuholen ist, wenn sich später strukturelle Änderungen ergeben und Arbeitnehmer beschäftigt werden. Europäisches Recht sehe die Durchführung des Verhandlungsverfahrens ausschließlich bei der Gründung der SE und vor ihrer Eintragung vor – nicht danach. Dem liege eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers zugrunde (ausführlich dazu Europäische Aktiengesellschaft (SE) ohne Verhandlungsverfahren – das geht, findet der EuGH – Kliemt.blog).
BAG übernimmt Argumentation auch für das deutsche Recht
Das BAG hat mit Beschluss vom 26. November 2024, welches Ende März 2025 veröffentlicht wurde (1 ABR 37/20 – Das Bundesarbeitsgericht ) diese Überlegungen für das deutsche Recht übernommen:
Das Gericht lehnt ebenfalls eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahren ab. Wenn die Bildung und Beteiligung eines besonderen Verhandlungsgremiums nicht erfolgt sei, weil die Gründungsgesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigt haben, dann sei keine Nachholung gesetzlich vorgesehen.
Sodann lehnt das Gericht auch eine Analogie zu § 18 Abs. 3 SEBG (§ 18 SEBG – Einzelnorm) ab. § 18 Abs. 3 SEBG sieht vor, dass bei strukturellen Änderungen der SE, die geeignet sind, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, Verhandlungen über die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE stattfinden. Diese Regelung hatte die herrschende Meinung bislang analog angewendet, um eine nachträgliche Verhandlungspflicht zu begründen. Das BAG nimmt stattdessen an, es sei keine planwidrige Regelungslücke gegeben, die für eine Analogie erforderlich sei. Vielmehr sei die (beschränkte) Regelung eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gewesen – sowohl auf europäischer Ebene als auch auf deutscher Ebene.
Rechtsmissbrauch führt nicht zur Nachholungspflicht
Das BAG lehnt schließlich auch eine Verhandlungspflicht als Folge eines Rechtsmissbrauches ab: § 43 SEBG regele zwar, dass die SE nicht dazu missbraucht werden dürfe, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Diese sei aber nur eine Unterlassungspflicht, so das BAG. Handlungspflichten folgten daraus nicht.
Spielräume des BAG ungenutzt gelassen
Das BAG hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, anders als der EuGH zu entscheiden. Denn die europäische Richtlinie setzt nur einen Mindeststandard. Das deutsche SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) hätte also weiter ausgelegt werden können. Das hat das BAG nicht getan und sich auch einer richterlichen Rechtsfortbildung ausdrücklich verwehrt.
Folgen für die Praxis
Der Fall beim BAG betraf keine Vorrats-SE. Nimmt man die Argumentation des Gerichts aber ernst, kann auch bei der wirtschaftlichen Aktivierung einer Vorrats-SE keine Pflicht zur Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens bestehen. Die Attraktivität der SE-Gesellschaftsform dürfte damit steigen – insbesondere für internationale Konzerne, denen die unternehmerische Mitbestimmung nach deutschem Recht fremd ist.