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BAG schafft Rechtssicherheit bei der Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer durch Tarifvertrag

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Gemäß § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG kann die gesetzliche Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten durch einen Tarifvertrag der Einsatzbranche abweichend geregelt, d.h. verkürzt oder verlängert werden. Mit diesem Mechanismus hat sich jüngst das Bundesarbeitsgericht in einer bisher nur als Pressemitteilung vorliegenden Entscheidung (vom 14. September 2022 – 4 AZR 83/21) näher beschäftigt und insoweit Rechtssicherheit geschaffen.

Seit dem 1. April 2017 gilt gemäß § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG für die Überlassung eines Leiharbeitnehmers bei demselben Entleiher eine gesetzliche Höchstdauer von 18 aufeinander folgenden Monaten. Wird dies missachtet, greift nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die unangenehme Folge, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zustande gekommen gilt (vgl. § 10 Abs. 1 AÜG i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG).

Ein möglicher Ausweg: Gemäß § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG kann die gesetzliche Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten durch einen Tarifvertrag der Einsatzbranche verkürzt oder verlängert werden. Ungeklärt war in Bezug auf solch abweichende Regelungen zur Höchstüberlassung bisher, welche tariflichen Anforderungen zu stellen sind, damit die entsprechende tarifliche Regelung zur Anwendung gelangen kann: Reicht es, dass der Entleiher tarifgebunden ist oder muss dies gleichermaßen für den Leiharbeitnehmer und/oder den Verleiher gelten?

Das BAG hat hierzu nun Stellung bezogen: Bei einer vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung kann in einem Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche abweichend von der gesetzlich zulässigen Dauer von 18 Monaten eine andere Überlassungshöchstdauer vereinbart werden; diese ist auch für den überlassenen Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) und dessen Arbeitgeber (Verleiher) unabhängig von deren Tarifgebundenheit maßgebend.

Der zu entscheidende Fall

Der klagende Arbeitnehmer war bei der Beklagten (Entleiherin) ab Mai 2017 für knapp 24 Monate als Leiharbeitnehmer überlassen. Die Beklagte ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V. (Südwestmetall). In ihrem Unternehmen galt daher der zwischen Südwestmetall und der IG Metall geschlossene „Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit“. Dieser regelt unter anderem, dass die Dauer einer Arbeitnehmerüberlassung 48 Monate nicht überschreiten darf. Der Kläger wollte mit seiner Klage festgestellt wissen, dass zwischen ihm und der beklagten Entleiherin aufgrund Überschreitung der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei. Der Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit gelte für ihn mangels Mitgliedschaft in der IG Metall nicht. Zudem sei die dem Tarifvertrag zugrundliegende Regelung (§ 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG) verfassungswidrig.

Entscheidung des BAG

Die Klage blieb wie bereits in den Vorinstanzen auch vor dem BAG erfolglos. Das BAG stellte fest, dass Südwestmetall und IG Metall die Überlassungshöchstdauer für den Einsatz von Leiharbeitnehmern bei der Beklagten durch Tarifvertrag mit Wirkung auch für den Kläger und dessen Arbeitgeberin (Verleiherin) verlängern konnten.

BAG: Regelungsermächtigung unabhängig von Tarifbindung des Leiharbeitnehmers und Verleihers

Bei § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG handle es sich um eine vom Gesetzgeber außerhalb des Tarifvertragsgesetzes vorgesehene „Regelungsermächtigung“, die den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche nicht nur gestatte, die Überlassungshöchstdauer abweichend von § 1 Abs. 1b Satz 1 AÜG verbindlich für tarifgebundene Entleihunternehmen, sondern auch für Verleiher und Leiharbeitnehmer mittels Tarifvertrags zu regeln, ohne dass es auf deren Tarifgebundenheit ankomme. Interessant ist, dass sich das BAG auf diese Weise offenkundig der noch auf der Ebene der Vorinstanz geführten Rechtsfrage entziehen konnte, ob es sich bei der Regelung der Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer um sogenannte Betriebsnormen im Sinne des § 3 Abs. 2 TVG (so die Vorinstanz: LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 18. November 2020, 21 Sa 12/20) handelt – die für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist, gelten – oder um sogenannte Inhaltsnormen (so die Vorinstanz zur Parallelentscheidung des BAG (4 AZR 26/21): LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 2. Dezember 2020, 4 Sa 16/20) – deren Geltung die beiderseitige Tarifbindung voraussetzt. Hierauf kommt es unter dem Konstrukt der „Regelungsermächtigung“ nicht an.

BAG: Regelungsermächtigung unionsrechts- und verfassungskonform

Der EuGH stellte bereits im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens C‑232/20 in anderer Sache am 17. März 2022 fest, dass die Leiharbeitsrichtlinie RL 2008/104/EG einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen (sehen Sie dazu unseren Blogbeitrag vom 25. April 2022). Dem schloss sich das BAG im Ergebnis nun an: Die gesetzliche Regelung sei europarechtskonform. Im Übrigen stünde sie im Einklang mit dem nationalen Verfassungsrecht. Schließlich halte sich die vereinbarte Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten im Rahmen der gesetzlichen Regelungsbefugnis.

Folgen für die Praxis und Ausblick

Die Entscheidung ist vor allem in Bezug auf tarifliche Verlängerungen der Höchstüberlassungsdauer erfreulich. Das Erfordernis einer übereinstimmenden Tarifgebundenheit von Leiharbeitnehmer und Entleiher hätte dazu geführt, dass das gesetzgeberisch der Praxis an die Hand gegebene Instrument zur Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer faktisch meist leerlaufen würde.

Mit Spannung erwartet werden kann im Zusammenhang mit der Verlängerung der Überlassungsdauer durch Tarifvertrag weiter die Folgeentscheidung des LAG Berlin-Brandenburg (15 Sa 1991/19) zur Frage, ob eine Überlassungshöchstdauer, die vor dem 1. April 2017 begann und insgesamt 55 Monate andauerte, noch als vorübergehend anzusehen ist. Interessant dürfte hier vor allem werden, ob das Gericht die Gesamtüberlassungsdauer von 55 Monaten als noch zulässig ansehen wird, nachdem der EuGH am 17. März 2022 (Az. C-232/20) auf die Vorlagefrage desselben Gerichts (sehen Sie dazu unseren Blogbeitrag vom 25. April 2022) hin anmerkte, dass diese im Rahmen einer Missbrauchskontrolle als rechtswidrig zu qualifizieren sein könnte.

Sabine Vorbrodt, LL.M.

Rechtsanwältin

Associate
Sabine Vorbrodt berät und vertritt nationale und internationale Unternehmen in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Neben Restrukturierungsprojekten berät sie ihre Mandanten zudem in Kündigungsrechtsstreitigkeiten, im Bereich des Betriebsverfassungsrechts sowie in der Vertragsgestaltung. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "ESG".
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