Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main gab gestern (im einstweiligen Rechtsschutz) grünes Licht für die von der Gewerkschaft der Deutschen Lokomotivführer (GDL) angekündigten mehrtägigen Streiks. Doch während ab morgen die Bahnen stillstehen, nimmt der Tarifstreit weiter an Fahrt auf: Laut einer Pressemitteilung des Hessischen LAG beantragte der Arbeitgeberverband der Deutsche Bahn-Unternehmen (AGV MOVE) am 2. Januar 2024 die Feststellung, dass die GDL nicht tariffähig ist.
Hintergründe
Die GDL gründete im Januar 2023 eine eingetragene Genossenschaft namens Fair Train e.G. Gemäß § 2 der Satzung ist Zweck der Genossenschaft die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder auf Grundlage von Tarifverträgen mit der GDL, insbesondere durch Arbeitnehmerüberlassung an Eisenbahnverkehrsunternehmen. Mitglieder der Genossenschaft können gemäß § 3 der Satzung nur Mitglieder der GDL werden. Der Vorstand der Fair Train e.G. besteht gemäß § 32 der Satzung aus zwei Mitgliedern der Genossenschaft (und damit zwei Mitgliedern der GDL).
Kurz gesagt ist der Plan demnach folgender: Lokführer, die Mitglieder der GDL sind, kündigen ihr (langjähriges) Arbeitsverhältnis mit der Deutschen Bahn und schließen mit der Fair Train e.G. ein neues Arbeitsverhältnis, auf das die zwischen Fair Train e.G. und GDL geschlossenen Tarifverträge Anwendung finden. Die Fair Train e.G. überlässt dann im Wege der Arbeitnehmerüberlassung die Lokführer an die Deutsche Bahn. Aufgrund des Fachkräftemangels lässt sich die Deutsche Bahn darauf ein. Die überlassenen Lokführer erhalten auf diese Weise bessere Arbeitsbedingungen (vor allem höhere Stundenlöhne) als die bei der Deutschen Bahn festangestellten Lokführer (bei exakt gleicher Tätigkeit).
Feststellung der „Tarif(un)fähigkeit“ der GDL
Der AGV MOVE ist aufgrund der Vorgehensweise von GDL und Fair Train e.G. der Auffassung, dass die GDL nicht tariffähig ist und möchte dies im besonderen Beschlussverfahren nach § 97 ArbGG gerichtlich feststellen lassen.
Tariffähig ist, wer Partei eines Tarifvertrages sein kann. Der Begriff ist gesetzlich nicht geregelt, sodass es Aufgabe der Arbeitsgerichte ist, den Begriff im Lichte der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) auszulegen. Das BAG hat im Laufe der Jahre Mindeststandards für die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft entwickelt. Nach diesen muss eine Gewerkschaft unter anderem gegnerfrei und gegnerunabhängig
Nach Auffassung des BAG bedeutet Gegnerfreiheit, dass einer Gewerkschaft grundsätzlich keine Personen angehören, die ihrerseits Arbeitgeberfunktionen beim Tarifpartner wahrnehmen. Die beiden Vorstandsmitglieder der Fair Train e.G. dürften eine solche Arbeitgeberfunktion ausübenNachder Satzung der Fair Train e.G. müssen die Vorstandsmitglieder nämlich auch Mitglieder der GDL sein. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG wäre die GDL damit nicht gegnerfrei. Es stellt sich hier aber die Frage, ob das BAG im Rahmen seiner früheren Urteile die Kreativlösung der GDL über die Leiharbeitergenossenschaft bereits im Blick hatte. Begründungsansatz des BAG war schließlich immer die „Schwächung“ der Gewerkschaft für den Fall, dass diese nicht gegnerfrei war. Hier ist aber gerade umgekehrt. Weiter kann man die Frage stellen, ob es sich auswirkt, wenn die Vorstandsmitglieder vor Abschluss eines Tarifvertrages (entgegen dem Wortlaut der Satzung) keine Mitglieder der GDL mehr sind. Sofern die Vorstandsmitglieder der Fair Train e.G. noch GDL-Mitglieder sind, könnten sie also durch einen Austritt aus der GDL wohlmöglich noch Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung nehmen.
Das Merkmal der Gegnerunabhängigkeit bedeutet nach dem BAG, dass die Gewerkschaft vom tariflichen Gegenspieler unabhängig genug sein muss, um die Interessen ihrer Mitglieder wirksam und nachhaltig vertreten zu können, was der Fall ist, wenn die Gewerkschaft strukturell vom Gegenspieler abhängig ist. Das BAG hatte hier vor allem Konstellationen im Blick, bei denen die Gewerkschaft statt von den Beiträgen ihrer Mitglieder von denen der Arbeitgeberseite abhängig ist, sodass die Arbeitgeberseite durch Androhung der Zahlungseinstellung die Willensbildung der Gewerkschaft beeinflussen kann. Sofern die Kassen zwischen GDL und Fair Train e.G. strikt getrennt sind, dürfte eine finanzielle Abhängigkeit der GDL nicht gegeben sein. Sofern das BAG auch von einer organisatorischen Gegnerunabhängigkeit spricht, dürfte dies mit Gegnerfreiheit gleichzusetzen sein.
Rechtsfolgen einer Entscheidung und Auswirkungen auf Streiks
Der rechtskräftige Beschluss über die Tariffähigkeit entfaltet gemäß § 97 Abs. 3 ArbGG Wirkung für und gegen jedermann. Es besteht für die GDL das Risiko, dass sie bei rechtskräftiger Feststellung der Tarifunfähigkeit keine Tarifverträge mehr abschließen kann (auch nicht mit der Deutschen Bahn) und Streiks unzulässig werden. Es ist zu erwarten, dass die GDL im Falle der Feststellung der Tarifunfähigkeit die Entscheidung des LAG mit der Rechtsbeschwerde zum BAG anficht. Erst wenn das BAG entschieden hat, entfaltet die Entscheidung Rechtskraft. Auf die angekündigten Streiks hat das Verfahren damit keine unmittelbare Auswirkung.