Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die nach einer Kündigung ausgestellt wird und den Zeitraum der Kündigungsfrist abdeckt, kann erschüttert sein – muss es aber nicht. Erfreulicherweise hat das Bundesarbeitsgericht dem Arbeitgeber in einer jüngst ergangenen Entscheidung (Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23, bisher liegt nur die Pressemitteilung vor) weitere Anhaltspunkte an die Hand gegeben, um die Plausibilität von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu überprüfen.
Seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8.9.2021 (siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 12.10.2021) mehren sich Entscheidungen und Streitigkeiten zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Damals hatte das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann, wenn sich der Arbeitnehmer unmittelbar nach einer Eigenkündigung passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist krankmeldet. Mittlerweile sind zu diesem Themenkomplex einige weitere Entscheidungen ergangen, die jeweils unterschiedliche Sachverhaltsvariationen beinhalten. Hierzu zählt das Urteil des LAG Niedersachsen vom 8.3.2023 (siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 6.6.2023). Dieses hat das Bundesarbeitsgericht in seiner im Dezember ergangenen Entscheidung aufgehoben.
Worum geht es?
Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer mit Wirkung zu Ende Mai 2022. Die Kündigung der Arbeitgeberin ging dem Arbeitnehmer am 3.5.2022 zu, während er ausweislich einer Bescheinigung vom Vortag bis zum 6.5.2022 arbeitsunfähig erkrankt war. Es folgten weitere Nachweise, die seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Beendigungstermin bescheinigten. Pünktlich nach Ablaufen der Kündigungsfrist, war der Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig und begann eine Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber. Da die Arbeitgeberin die Entgeltfortzahlung für den gesamten Monat Mai verweigerte, klagte der Arbeitnehmer auf Entgeltfortzahlung.
Das LAG Niedersachsen hatte der Klage des Arbeitnehmers stattgegeben. Es begründete dies unter anderem damit, dass die Arbeitsunfähigkeit schon vor dem Ausspruch der Kündigung eingetreten sei. Zudem reiche der Umstand, dass der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig gewesen sei, ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht aus, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit zu erschüttern.
Die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Das Bundesarbeitsgericht stimmte der Entscheidung des LAG Niedersachsen nicht zu und legte folgende Maßstäbe an:
- Es ist stets eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände erforderlich
- Jede (Folge-)Bescheinigung ist sowohl im Gesamtkontext als auch einzeln zu betrachten
- Es ist unerheblich, ob die vorausgegangene Kündigung durch den Arbeitgeber oder Arbeitnehmer erfolgt ist
So gelangte das Bundesarbeitsgericht zum Ergebnis, dass die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Zweifel an ihrem Beweiswert aufkommen lässt, der Beweiswert der Folgebescheinigungen, die nach Erhalt der Kündigung eingereicht wurden, jedoch erschüttert ist.
Damit weitet das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung vom 8.9.2021 auf Folgebescheinigungen aus. Für die Erschütterung des Beweiswertes sprach nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts insbesondere, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist abdeckten und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wieder arbeitsfähig war. In der Folge traf den Arbeitnehmer hinsichtlich des Zeitraums vom 7.5.2022 bis zum 31.5.2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzungen für den Entgeltfortzahlungsanspruch. Zur weiteren Klärung verwies das Bundesarbeitsgericht die Sache an das LAG Niedersachsen zurück.
Erkenntnisse aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts
Neu ist: Für die Erschütterung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt es nicht darauf an, ob eine Kündigung vom Arbeitgeber oder Arbeitnehmer ausgesprochen wurde. Entscheidend ist auch nicht, ob es sich um eine Erst- oder Folgebescheinigung handelt. Denn: Die passgenaue Übereinstimmung zwischen Kündigungsfrist und bescheinigter Arbeitsunfähigkeit stellt ein wichtiges Indiz für die Erschütterung einer (neuen) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dar. Dies insbesondere, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Ablaufen der Kündigungsfrist wieder arbeitsfähig ist. Unklar ist, ob das Bundesarbeitsgericht den Beweiswert ebenfalls als erschüttert angesehen hätte, wenn der Arbeitnehmer nach Ablauf der Kündigungsfrist nicht arbeitsfähig gewesen wäre.
Was sollten Arbeitgeber beachten?
Arbeitgeber sollten nach Ausspruch einer Kündigung und dem Erhalt von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung etwaige Entgeltfortzahlungsansprüche unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls genau prüfen. Dabei ist besondere Aufmerksamkeit geboten, denn aufgrund der Fülle der Rechtsprechung sind einzelne Sachverhaltsvariationen geeignet, einen erheblichen Einfluss auf den hohen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu nehmen. Ein gutes Beispiel für eine solche Sachverhaltsvariante ist das Urteil des LAG Köln vom 10.8.2023 (hier in unserem Blogbeitrag vom 28.12.2023 nachzulesen), in dessen Fall eine länger andauernde Krankheitsgeschichte der Arbeitnehmerin vorlag und keine Erschütterung des Beweiswertes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angenommen wurde.
Ausblick
Die Thematik wird auch zukünftig die Arbeitsgerichte beschäftigen. Ist der hohe Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst einmal erschüttert, könnten Beweisaufnahmen Klarheit über das tatsächliche Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit bringen. In der Praxis kommen derartige Beweisaufnahmen (noch) selten vor. Davon sollten sich Arbeitgeber aber nicht abhalten lassen, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und entsprechende Entgeltfortzahlungsansprüche nach Ausspruch einer Kündigung genau zu prüfen.
Vielen Dank an Antonio Krnic (wissenschaftlicher Mitarbeiter im Düsseldorfer Büro) für die Mitwirkung bei der Erstellung des Beitrags.