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Entschärfung der formalen Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige?

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Die formalen Anforderungen an eine wirksame Massenentlassungsanzeige sind aus Arbeitgebersicht (zu) hoch. Nicht zuletzt führen sie häufig zur Unwirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen. Eine vor Kurzem auf Vorlage des BAG ergangene Entscheidung des EuGH zur Pflicht der Zuleitung einer Abschrift des Konsultationsschreibens an die Arbeitsagentur gibt vagen Anlass zu der Hoffnung, dass die Rechtsprechung ihre Anforderungen zurückschraubt.

Konsultationsverfahren vor Massenentlassungsanzeige

Soweit nach den gesetzlichen Schwellenwerten eine anzeigepflichtige Massenentlassung vorliegt, muss der Arbeitgeber, bevor er nach Maßgabe von § 17 KSchG eine Anzeige bei der zuständigen Arbeitsagentur erstattet, den Betriebsrat beteiligen (sog. Konsultationsverfahren). Ziel des Konsultationsverfahrens ist es, nach vollständiger Unterrichtung des Betriebsrats mit diesem insbesondere über die Gründe und den Zeitraum der geplanten Entlassungen zu beraten, um Entlassungen ggf. zu vermeiden oder deren Folgen zu mindern (vgl. zum Thema Massenentlassungsanzeige auch unserem Blog-Beitrag vom 19. April 2021).

Weiterhin regelt Art. 2 Abs. 3 der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG), welcher in § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG umgesetzt wurde, dass der zuständigen Arbeitsagentur gleichzeitig mit der Unterrichtung des Betriebsrats, d.h. grundsätzlich am selben Tag, eine Abschrift des Konsultationsschreibens zuzuleiten ist. Dadurch soll die Arbeitsagentur frühzeitig – also vor Erstattung der eigentlichen Massenentlassungsanzeige – informiert und auf die damit einhergehenden Änderungen auf dem Arbeitsmarkt vorbereitet werden, um entsprechende Maßnahmen vorbereiten zu können.

Die Rechtsprechung des BAG bewegt sich seit dem Jahr 2006 zu einer immer strengeren und formelleren Auslegung von § 17 KSchG (vgl. unseren Blog-Beitrag vom 18. Januar 2022). Vorherige Auskünfte der Arbeitsagentur sind insoweit nicht rechtsverbindlich und eine Heilung von Fehlern kommt daher auch durch einen bestandskräftigen Bescheid der Arbeitsagentur nicht in Betracht. In diesem Kontext überrascht daher die hier erörterte Entscheidung des EuGH.

Fall des vorlegenden 6. Senats des BAG

Der 6. Senat hatte dem EuGH die Vorlagefrage gestellt, welchem Zweck die entsprechende Verpflichtung aus der EU-Richtlinie dient, der Arbeitsverwaltung eine Abschrift von Teilen der Mitteilung an den Betriebsrat im Konsultationsverfahren zu übermitteln .

Der der Ausgangsentscheidung des 6. Senats des BAG (Urteil vom 27. Januar 2022 – 6 AZR 155_21 (A)) zugrunde liegende Fall ist typisch für eine Vielzahl beim BAG anhängiger Kündigungsschutzklagen: Das Verfahren zur Anhörung des Betriebsrats wurde von der Arbeitgeberseite eingeleitet und diesem die entsprechenden Informationen schriftlich mitgeteilt. Es wurde jedoch versäumt, eine Kopie dieser schriftlichen Mitteilung an die zuständige Arbeitsagentur weiterzuleiten. Fünf Tage später erklärte der Betriebsrat in seiner abschließenden Stellungnahme, dass er keine Möglichkeit sehe, die geplanten Entlassungen zu vermeiden. Am darauffolgenden Tag wurde die geplante Massenentlassung der Arbeitsagentur – im Übrigen ordnungsgemäß – angezeigt, die den Eingang wenig später bestätigte. Anschließend wurde dem gegen die Kündigung klagenden Arbeitnehmer mitgeteilt, dass sein Arbeitsvertrag innerhalb der maßgeblichen Kündigungsfrist betriebsbedingt gekündigt wurde.

Entscheidung des EuGH und Konsequenzen für die deutsche Rechtsprechung

Der EuGH hat auf die Vorlagefrage des BAG hin festgestellt, dass die relevante Vorschrift der EU-Richtlinie dahin auszulegen sei, dass die Übermittlungspflicht des Konsultationsschreibens an die zuständige Behörde nicht den Zweck habe, den im Rahmen der Massenentlassung gekündigten Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren (Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22).

Während der Wortlaut der Regelung nicht eindeutig sei, ergebe sich insbesondere aus deren Kontext und Zweck der kollektive Charakter. Die Übermittlung der gesetzlich vorgeschriebenen Informationen an die Behörde erfolge in einem Stadium, in dem Massenentlassungen lediglich in Erwägung gezogen werden und die Anhörung der Arbeitnehmervertreter noch nicht abgeschlossen sei. Sie erfolge damit nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, um die zuständige Behörde in die Lage zu versetzen, die negativen Folgen der geplanten Massenentlassungen und notwendige Maßnahmen so weit wie möglich zu antizipieren.

Das BAG wird nunmehr im Ausgangsfall unter Berücksichtigung der Erwägungen des EuGH zu einer eigenen Auslegung von § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG kommen – mit absehbarem Ergebnis. Aller Voraussicht nach wird zumindest die spätere bzw. unterlassene Zuleitung des Konsultationsschreibens an die Arbeitsagentur nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Der vorlegende 6. Senat neigte bereits in seinem Vorlagebeschluss zu der Auffassung, die Zuleitung der Mitteilung an den Betriebsrat weder als Teil des Anzeige- noch des Konsultationsverfahrens, sondern lediglich als verfahrensordnende Vorschrift anzusehen sei. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens stehe noch gar nicht fest, ob und wie viele Arbeitnehmer wann auf den Arbeitsmarkt gelangten und welche Arbeitnehmer betroffen sein würden. Ein Tätigwerden der Behörde sei erst an den Abschluss der Konsultation mit dem Betriebsrat geknüpft, welche Voraussetzung für eine wirksamen Anzeige sei. Dies spreche dafür, dass die vorherige Übermittlungspflicht noch keinen individualschützenden Charakter habe und deshalb ein Verstoß dagegen nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen könne.

Übertragung auf andere formale Fehler?

Aus Arbeitgebersicht stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die Entscheidung des EuGH auf andere formale Fehler des Konsultations- und Anzeigeverfahren übertragbar sein könnte. Zu nennen sind hier beispielsweise lediglich inhaltlich fehlerhafte Angaben zum Betrieb oder zur Anzahl der in der Regel Beschäftigten oder die falsche Zuordnung von Arbeitnehmern zu Berufsgruppen (§ 17 Abs. 3 S. 4 KSchG). So könnten die strengen formalen Anforderungen des BAG, wonach Fehler im Massenentlassungsverfahren nicht selten zur Unwirksamkeit der Kündigungen aller betroffenen (und klagenden) Arbeitnehmer führen, vor dem Hintergrund der jüngsten EuGH-Entscheidung unverhältnismäßig sein. Denn insoweit ist fraglich, ob nicht weitere formale Anforderungen in diesem Sinne keinen Individualschutz vermitteln.

Ausblick

Viele Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Erstellung einer Massenentlassungsanzeige sind mittlerweile höchstrichterlich geklärt, jedoch immer noch nicht alle. Da sich der EuGH zu anderen formalen Fehlern nicht positioniert hat, ist nicht unwahrscheinlich, dass das BAG künftig weitere (womöglich auch bereits entschiedene) formale Fehler der Massenentlassung dem EuGH vorlegen wird.

Jutta Heidisch

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Senior Associate
Jutta Heidisch berät deutsche und internationale Unternehmen sowie Führungskräfte in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Schwerpunkte sind die Beratung bei Umstrukturierungen, betriebsverfassungs- und tarifrechtlichen Fragestellungen sowie die Vertretung von Mandanten in arbeitsgerichtlichen Urteils- und Beschlussverfahren in sämtlichen Instanzen. Besondere Expertise besitzt Jutta Heidisch außerdem im Arbeitskampfrecht sowie Fremdpersonaleinsatz in Unternehmen. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "Aufsichtsratsberatung".
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