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Schwellenwert für die Betriebsgröße bei der Massenentlassung: Charakteristische Personalstärke des Betriebs entscheidend

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Die Durchführung eines sog. Massenentlassungsverfahrens nach § 17 KSchG im Fall eines geplanten Personalabbaus betrifft nicht nur große Unternehmen, sondern auch kleinere Betriebe. So müssen bereits Arbeitgeber, welche in Betrieben mit „in der Regel“ mehr als 20 Arbeitnehmer mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen wollen, ein Massenentlassungsverfahren durchführen. Dabei ist die Ermittlung der Anzahl der „in der Regel“ tätigen Arbeitnehmer nicht unkompliziert. Wir zeigen, worauf es hierbei ankommt und welche Konsequenzen drohen, wenn die Betriebsgröße falsch berechnet und kein Massenentlassungsverfahren durchgeführt wird.

Der Beschluss des BAG vom 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22

Das BAG hat in einer jüngeren Entscheidung (BAG, Beschl. v. 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22) an seiner ständigen Rechtsprechung festgehalten und resümiert, dass die Betriebsgröße nicht stichtagsbezogen ermittelt werde. Vielmehr sei diejenige Personalstärke entscheidend, die bei regelmäßigem Geschäftsgang für den Betrieb charakteristisch sei.

Eine Rechtsprechungsänderung steht hingegen bezüglich der Rechtsfolgen eines erforderlichen, aber unterbliebenen Massenentlassungsverfahrens im Raum. Denn in Anbetracht eines ähnlichen anhängigen Verfahrens auf EU-Ebene hatte das BAG die streitgegenständliche Kündigung – entgegen seiner ständigen Rechtsprechung – nicht wegen Fehlern im Massenentlassungsverfahren für unwirksam erklärt, sondern zunächst offengelassen, ob eine unterbliebene Massenentlassungsanzeige infolge fehlerhafter Berechnung des Schwellenwerts Individualschutz für einzelne Arbeitnehmer gewährt und zu der Unwirksamkeit einzelner Kündigungen führt.

Sachverhalt

Die Parteien im zugrunde liegenden Fall stritten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. In dem Betrieb der Arbeitgeberin wurden bis September 2020 25 Arbeitnehmer beschäftigt. Über das Vermögen der Arbeitgeberin wurde auf Antrag vom 29. September 2020 die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet. Das Insolvenzverfahren wurde am 1. Dezember 2020 eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Die im Oktober 2020 noch bestehenden 22 Arbeitsverhältnisse wurden durch Kündigungen und Aufhebungsverträge beendet, die zwischen dem 12. November 2020 und dem 29. Dezember 2020 zugingen bzw. abgeschlossen wurden. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 zum 31. März 2021. Er erstattete keine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG. Der Kläger erhob darauf Kündigungsschutzklage. Er vertrat die Auffassung, die Kündigung sei unwirksam, weil es an der erforderlichen Massenentlassungsanzeige durch den Beklagten fehle. Nach Auffassung des Beklagten sei keine Massenentlassungsanzeige erforderlich gewesen, da für die Beurteilung der Betriebsstärke der Stichtag der Insolvenzeröffnung endscheidend gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe die Arbeitgeberin nur 19 Arbeitnehmer beschäftigt, sodass keine Massenentlassungsanzeige zu erstatten war.

Die Entscheidung

1. Schwellenwert für das Massenentlassungsverfahren bei Berücksichtigung der charakteristischen Personalstärke überschritten

Das BAG stellte fest, dass der Schwellenwert für die Betriebsgröße hier überschritten und ein Massenentlassungsverfahren erforderlich war. Denn relevant sei weder die Beschäftigtenanzahl am Stichtag der Insolvenzeröffnung noch eine Durchschnittsbetrachtung. Entscheidend sei vielmehr die Personalstärke, welche bei regelmäßigem Geschäftsgang für den Betrieb charakteristisch sei. Erforderlich sei dafür ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung, wobei Zeiten außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsanfalls nicht zu berücksichtigen seien. Im Fall einer Betriebsstilllegung sei eine Vorausschau nicht möglich. Insoweit komme nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Betracht. Auch bei einer sukzessiven Stilllegung des Betriebs mit mehreren Entlassungswellen sei der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde.

Im Falle einer Insolvenz bestimme sich die Personalstärke demzufolge nach den betrieblichen Umständen, die vor der Insolvenzeröffnung charakteristisch gewesen seien. Maßgeblich für das BAG war, dass im Betrieb bis zur Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung im September 2020 25 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen waren. Der Umstand, dass am Tag der Insolvenzeröffnung nur noch 19 Arbeitnehmer beschäftigt waren, war für die Berechnung des Schwellenwerts nicht ausschlaggebend.

2. Rechtsfolgen der unterbliebenen Massenentlassungsanzeige unklar

Nach ständiger Rechtsprechung des BAG sind Kündigungen unwirksam, wenn das erforderliche Massenentlassungsverfahren nicht oder fehlerhaft durchgeführt wurde. Das BAG hat das hiesige Verfahren jedoch zunächst ausgesetzt. Der Hintergrund ist, dass im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV beim EuGH (Rechtssache C-134/22) anhängig war, in dem es um die Rechtsfolgen eines erfolgten, aber fehlerhaften Massenentlassungsverfahrens ging. Das BAG vertrat den Standpunkt, nicht bestimmen zu können, ob das im Rahmen von § 17 KSchG entwickelte Sanktionssystem, insbesondere die Unwirksamkeit von Kündigungen bei Fehlern im Massenentlassungsverfahren, im Einklang mit der Richtlinie stehen oder gegebenenfalls unverhältnismäßig sind, bevor der EuGH sich dazu positioniert habe, ob Fehler im Anzeigeverfahren bzw. eine gänzlich unterlassene Anzeige auch nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen dürfen.

§ 17 Abs. 1 KSchG auf dem Prüfstand – Rechtsprechungsänderung möglich

Mittlerweile ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C‑134/22 ergangen (siehe dazu unseren Beitrag vom 24. Juli 2023). Seitdem ist die deutsche Rechtsprechung, wonach Fehler im Massenentlassungsverfahren nach § 17 KSchG zur Unwirksamkeit der einzelnen Kündigungen führen, einmal mehr auf dem Prüfstand, denn der EuGH hat einen Individualschutz einzelner Arbeitnehmer abgelehnt, wenn die Massenentlassungsanzeige wegen der unterlassenen Übermittlung der Abschrift der Betriebsratsunterrichtung über die geplante Massenentlassung an die zuständige Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG fehlerhaft ist.

Diese Entscheidung des EuGH stellt indes kein Grundsatzurteil dar, denn der EuGH hat sich nicht dazu geäußert, ob ein Individualschutz auch bei anderen Fehlern im Massenentlassungsverfahren oder einem gänzlich unterbliebenen, aber erforderlichen Massenentlassungsverfahren abzulehnen ist.

Voraussichtlich am 14. Dezember 2023 wird das BAG im dargestellten Fall erneut verhandeln. Durchaus denkbar ist ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren, in dem das BAG dem EuGH noch einmal die konkrete Frage vorlegt, ob ein erforderliches, aber unterbliebenes Massenentlassungsverfahren Individualschutz gewährt.

Fazit

Das Massenentlassungsverfahren birgt für Arbeitgeber weiterhin erhebliche Risiken, da ein unterbliebenes oder fehlerhaftes Massenentlassungsverfahren nach aktueller Rechtsprechung zur Unwirksamkeit aller im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen führen kann.

Sofern Unsicherheiten bei der Berechnung der Betriebsgröße und dem Erreichen der Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG bestehen, empfiehlt es sich, vorsorglich ein Massenentlassungsverfahren durchzuführen, um „böse Überraschungen“, etwa im Rahmen anschließender Kündigungsschutzprozesse zu verhindern.

Kimia Wenzel

Rechtsanwältin

Associate
Kimia Wenzel berät und vertritt nationale und internationale Unternehmen in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Neben Restrukturierungsprojekten berät sie ihre Mandanten u. a. in Kündigungsrechtsstreitigkeiten, im Bereich des Betriebsverfassungsrechts sowie in der Vertragsgestaltung. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "Private Equity/M&A".
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