Klarstellung aus Erfurt zur Invaliditätsversorgung: Der vollständige Ausschluss einer Invaliditätsrente vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt nicht per se eine unangemessene Benachteiligung der Versorgungsberechtigten dar.
Die Gewährung einer betrieblichen Invaliditätsrente setzt nach vielen Versorgungsordnungen nicht nur den Eintritt der Invalidität, sondern zusätzlich auch das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis voraus. Das BAG hatte sich in seiner Entscheidung vom 10. Oktober 2023 (3 AZR 250/22) erneut mit der Frage zu befassen, ob eine solche Regelung in AGB zulässig ist – und hat ein Stück weit Klarheit für die Praxis geschaffen.
Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Startschuss für die Invaliditätsrente
Zu den Leistungen der betrieblichen Altersversorgung im Sinne des BetrAVG zählt neben der Alters- und Hinterbliebenenversorgung auch die Invaliditätsversorgung. Eine gesetzliche Definition der Invalidität enthält das BetrAVG indes nicht. Ebenso wenig finden sich im BetrAVG Vorgaben dazu, unter welchen Voraussetzungen eine zugesagte Invaliditätsversorgung zu gewähren ist. Insbesondere gibt es keine zwingende (zeitliche) Verknüpfung zwischen dem Bezug einer gesetzlichen Erwerbsminderungsrente und der Inanspruchnahme einer zugesagten betrieblichen Invaliditätsrente. Der Arbeitgeber hat somit grundsätzlich einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung seiner Invaliditätsversorgung.
In der Praxis sehen Versorgungsregelungen häufig den Bezug einer gesetzlichen Erwerbsminderungsrente und zusätzlich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Leistungsvoraussetzung für die betriebliche Invaliditätsrente vor. Letzteres hat folgenden Hintergrund: Der Arbeitgeber hat ein nachvollziehbares Interesse daran, Doppelleistungen zu vermeiden, die sich bei einer Gewährung der Invaliditätsrente während des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses ergeben könnten. Man denke hier nur an den Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub oder betriebliche Sonderzahlungen, die keine Arbeitsleistung, sondern lediglich den rechtlichen Bestand des Arbeitsverhältnisses voraussetzen und daher auch während eines aufgrund der Erwerbsminderung ruhenden Arbeitsverhältnisses entstehen können. Überdies besteht auf Seiten des Arbeitgebers ein Bedürfnis nach Planungssicherheit: Bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis muss der Arbeitgeber mit der (theoretischen) Möglichkeit rechnen, dass der Mitarbeiter seine Erwerbsfähigkeit wiedererlangt und die Weiterbeschäftigung auf seinem bisherigen Arbeitsplatz beansprucht. Dies erschwert natürlich die Personalplanung und Stellenbesetzung.
Vor diesem Hintergrund hatte das BAG in älteren Entscheidungen das Erfordernis einer vorherigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Leistungsvoraussetzung für die Invaliditätsversorgung grundsätzlich gebilligt (vgl. etwa BAG v. 5. Juni 1984 – 3 AZR 376/82 und BAG v. 9. Januar 1990 – 3 AZR 319/88). Konsequenz einer solche Ausgestaltung der Versorgungszusage: Der Bezug einer betrieblichen Invaliditätsrente vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist ausgeschlossen.
Unangemessene Benachteiligung für den Arbeitnehmer?
Der Arbeitnehmer muss sich in einer solchen Konstellation also zwischen dem Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses und der betrieblichen Invaliditätsversorgung entscheiden. Für den Arbeitnehmer erzeugt eine Versorgungsregelung, die seine Invaliditätsrente an die vorherige Beendigung des Arbeitsverhältnisses knüpft, somit eine gewisse Drucksituation. Die Entscheidung, den Bestand des Arbeitsverhältnisses aufzugeben, ist keine leichte. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die gesetzliche Erwerbsminderungsrente, die im Zweifel die „Haupteinnahmequelle“ des Betroffenen darstellt, in der Regel lediglich zeitlich befristet gewährt wird.
Bereits in einer Entscheidung vom 13. Juli 2021 (3 AZR 298/20) hatte sich das BAG angesichts dieser Interessenlage mit der Frage zu beschäftigen, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch dann zulässigerweise zur Leistungsvoraussetzung gemacht werden kann, wenn es sich bei der Versorgungszusage um Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) des Arbeitgebers handelt. In dieser Entscheidung erteilte der für die betriebliche Altersversorgung zuständige dritte Senat der streitentscheidenden AGB-Klausel, die zu einem vollständigen und ausnahmslosen Ausschluss einer Invaliditätsrente für Zeiten vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses führte, eine (vermeintlich) klare Absage. In seiner aktuellen Entscheidung vom 10. Oktober 2023 (3 AZR 250/22) stellte das BAG nunmehr in erfreulicher Deutlichkeit klar, dass nicht jede Klausel, die den Bezug der Invaliditätsrente von der vorherigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhängig macht, per se eine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 Abs. 1 S. 1 BGB darstellt.
Die Entscheidung des BAG vom 10. Oktober 2023 (3 AZR 250/22)
Grundlage der betrieblichen Altersversorgung des Klägers war in dem vom BAG entschiedenen Fall eine Gesamtzusage der Arbeitgeberin. Diese setzte für die Gewährung der Invaliditätsrente zum einen voraus, dass der Versorgungsberechtigte eine gesetzliche Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bezieht (was nach heutigem Sozialversicherungsrecht der Rente wegen Erwerbsminderung entspricht). Als zusätzliche Leistungsvoraussetzung war vorgesehen, dass der Versorgungsberechtigte aus den Diensten der Arbeitgeberin ausscheidet.
Dem Kläger wurde im Januar 2021 eine befristete gesetzliche Erwerbsminderungsrente bewilligt. Daraufhin beantragte er bei der beklagten Arbeitgeberin die betriebliche Invaliditätsversorgung. Diese verweigerte zunächst die Zahlung mit dem Hinweis, dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfülle, da er noch nicht bei ihr ausgeschieden sei. Der Kläger kündigte sodann sein Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 31. März 2022. Er vertrat allerdings die Auffassung, dass ihm die monatliche Betriebsrente bereits für die Zeit zwischen seiner Antragstellung und dem 31. März 2022 zustehe. Ein vollständiger Ausschluss der Invaliditätsversorgung vor der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses stelle eine unangemessene Benachteiligung dar. Seine Klage, mit der er die ausstehenden Rentenzahlungen geltend machte, blieb in allen drei Instanzen erfolglos.
Keine unzumutbare Drucksituation für den Arbeitnehmer
Der Umstand, dass die zugrunde liegende Versorgungzusage die Zahlung der Invaliditätsrente von der vorherigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhängig machte, stellte nach Ansicht des dritten Senats keine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 Abs. 1 S. 1 BGB dar. Eine unzumutbare Drucksituation sahen die Erfurter Richter hier nicht gegeben. Denn alle entscheidungsrelevanten Aspekte lagen für den Arbeitnehmer „auf dem Tisch“. Im Zweifel kann er selbst am besten einschätzen, wie realistisch die Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit ist und ob sich ein Festhalten am Arbeitsverhältnis lohnt. Dem Arbeitgeber stand im Streitfall überdies nach Maßgabe der Versorgungsordnung kein weiteres Prüf- und Entscheidungsrecht zu, das die Leistungsgewährung ungewiss machte oder diese hätte verzögern können. Im Hinblick auf die frühere Entscheidung aus 2021 sahen sich die Erfurter Richter offensichtlich zu einer Klarstellung veranlasst: Das Urteil des Senats vom 13. Juli 2021 sei nicht dahingehend zu verstehen, dass jeder Ausschluss einer betrieblichen Invaliditätsrente vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine unangemessene Benachteiligung darstelle. Der dritte Senat verwies insoweit auf den Kontext der seinerzeitigen Entscheidung. Dort sei der Arbeitnehmer – anders als im nun entschiedenen Fall – in der Tat gezwungen gewesen, das Arbeitsverhältnis zu beenden, obwohl noch ungewiss war, ob er einen Anspruch auf die betriebliche Invaliditätsversorgung haben würde.
Fazit
Die Klarstellung des BAG ist für die Praxis erfreulich. Zugleich zeigt die Entscheidung allerdings einmal mehr, dass der „Teufel im Detail“ steckt. Eine belastbare Bewertung etwaiger Wirksamkeitsrisiken in bestehenden Versorgungszusagen bedarf somit stets einer sehr genauen Analyse ihrer konkreten Ausgestaltung.