Für die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit (AU) gibt es seit dem 1. Januar 2016 neue Formularsätze. In der Vergangenheit gab es für Versicherte immer wieder Probleme beim Übergang von Entgeltfortzahlung auf Krankengeldbezug. Insbesondere drohten bei einer mehr als sechswöchigen Erkrankung Leistungslücken beim Krankengeldbezug, wenn Versicherte ihre Arbeitsunfähigkeit nicht lückenlos nachweisen konnten. Um die Schwächen des bisherigen Verfahrens zu korrigieren, wurden die Funktionen der AU-Bescheinigung erweitert. Die neuen Funktionen dienen allerdings nicht nur als Erleichterung für Versicherte sondern haben auch erhebliche arbeitsrechtliche „Nebenwirkungen“.
Die wesentlichen Neuerungen im Überblick
- Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch außerhalb des Entgeltfortzahlungszeitraums:
Bis zum 31. Dezember 2015 stellten Ärzte nach Ablauf des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums keine weiteren AU-Bescheinigungen aus. Vielmehr mussten ab der siebten AU-Woche sogenannte (uneinheitliche) „Auszahlscheine“ der jeweiligen Krankenkassen ausgefüllt werden. Ein ordnungsgemäß ausgefüllter und rechtzeitig vorgelegter Auszahlschein war Voraussetzung für den Krankengeldbezug.
Diese Funktion der „Auszahlscheine“ ist seit Anfang des Jahres in die bundesweit einheitliche AU-Bescheinigung integriert. Hierzu enthalten die neuen Formulare das Kästchen „ab 7. AU-Woche oder sonstiger Krankengeldfall“, welches der Arzt in Krankengeldfällen ankreuzt. Dadurch werden nunmehr über den gesamten Zeitraum einer Erkrankung AU-Bescheinigungen ausgestellt.
- Endbescheinigung
Darüber hinaus enthalten die neuen Formulare das Kästchen „Endbescheinigung“. Dieses ist vom Arzt anzukreuzen, wenn er bei Feststellung der AU bereits absehen kann, dass die AU tatsächlich zu dem im Feld „voraussichtlich arbeitsunfähig bis“ angegebenen Datum enden wird.
Diese Neuerungen – insbesondere das Enddatum einer AU – können für den Arbeitgeber einerseits mit Blick auf die Personalplanung interessant sein. Anderseits wird der anerkanntermaßen hohe Beweiswert der AU-Bescheinigung durch die Neuerungen ausgeweitet. Den neuen „Kästchen“ kann in arbeitsgerichtlichen Verfahren insoweit erhebliche Bedeutung zukommen.
Mehr Planungssicherheit für Arbeitgeber?
Wenn Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum erkranken, haben Arbeitgeber aus vielerlei Gründen ein Interesse an einer konkreten Information, wann genau sie wieder mit dem erkrankten Mitarbeiter planen können. Die Kenntnis des ärztlich festgestellten Endes der AU wäre insoweit durchaus hilfreich. Das Kästchen „Endbescheinigung“ befindet sich allerdings nicht auf dem Teil des Formularsatzes, welcher dem Arbeitgeber vorzulegen ist. Auch besteht keine gesetzliche Verpflichtung für den Arbeitnehmer, Auskunft über ein ärztlich festgestelltes Enddatum zu erteilen.
Ein Anspruch des Arbeitgebers auf Mitteilung des Enddatums kann jedoch anderweitig begründet werden. Denkbar sind insoweit tarifliche, betriebliche oder ggf. arbeitsvertragliche Regelungen. Wird eine betriebliche Regelung avisiert, ist das Mitbestimmungsrecht aus des Betriebsrats § 87 Abs. 1 Nr. BetrVG zu beachten, denn eine solche Verpflichtung der Mitarbeiter betrifft eine Frage der betrieblichen Ordnung (vgl. BAG v. 25.1.2000 – 1 ABR 3/99)
Prozessuale Bedeutung
Die ordnungsgemäß ausgestellte AU-Bescheinigung ist der gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweis für das Vorliegen krankheitsbedingter AU (BAG v. 1.10.1997 – 5 AZR 726/96). Nachdem nun auch über den Entgeltfortzahlungszeitraum hinaus AU-Bescheinigungen erteilt werden, wird die Beweiskraft zeitlich ausgedehnt.
Ausdehnung des Beweiswerts – Nachteil Arbeitgeber?
Der „gelbe Schein“ dient Arbeitnehmern als valider und prinzipiell nicht zu hinterfragender Beleg für eine Erkrankung. Ab und an wird er genutzt, um eine kleine Auszeit zu nehmen. Mitunter wird er aber auch exzessiv missbraucht. Liegt ein solcher Verdacht nahe und wird die AU zum Gegenstand eines Rechtsstreits, kann der Arbeitnehmer nunmehr für die gesamte Dauer der streitigen Erkrankung ärztliche AU-Bescheinigungen als Beweis vorlegen. Der Arbeitgeber hat dann die – oftmals schwierige – Aufgabe, seine Zweifel an der AU mit Tatsachen und Indizien zu untermauern und die Beweiskraft der AU-Bescheinigungen zu erschüttern. Insoweit erscheinen die Neuerungen zunächst einmal nachteilig für den Arbeitgeber. Denn früher war der Arbeitnehmer nur für die Dauer des Entgeltfortzahlungszeitraums durch die hohe Beweiskraft der AU-Bescheinigungen „geschützt“. Darüber hinaus musste er in der Regel seinen Arzt von Schweigepflicht entbinden, wenn der Arbeitgeber die AU bestritten hat.
Nicht unbedingt!
Andererseits können die dem Arbeitgeber – unter Umständen zahlreich – vorliegenden AU-Bescheinigungen selbst der Schlüssel zur Erschütterung ihres eigenen Beweiswerts sein, nämlich dann, wenn sie fehlerhaft, widersprüchlich oder sonst auffällig sind. Obwohl der Arbeitgeber in der Regel keine Kenntnis von den Diagnosen des Mitarbeiters hat, kann er anhand der AU-Bescheinigung zumindest die „Krankengeschichte“ in zeitlicher Hinsicht rekonstruieren und auf Ungereimtheiten (z.B. fehlende Angaben, Rückdatierungen, zeitliche Lücken oder Unklarheiten, sich widersprechende AU-Bescheinigungen mehrerer Ärzte, auffällige Krankheitszeiträume) untersuchen. Finden sich Auffälligkeiten, können diese – ggf. zusammen mit weiteren Indizien – ein wichtiges Puzzleteil zur Aufdeckung von Missbrauchsfällen sein. Ein genauer Blick kann sich hier in jedem Fall lohnen!
Bedeutung der Endbescheinigung
Auch das Vorliegen einer „Endbescheinigung“ kann insoweit von Bedeutung sein. Etwa im Fall, dass im Anschluss an ein vom Arzt verbindlich festgestelltes Ende der Arbeitsunfähigkeit eine Folgebescheinigung vorgelegt wird, kann dieser Widerspruch den Beweiswert unter Umständen erschüttern.
Die Endbescheinigung hat überdies die Funktion, zu bescheinigen, dass der Arbeitnehmer an dem auf das Enddatum folgenden Tag wieder arbeitsfähig ist. Dem Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Endbescheinigung kann insoweit etwa in Prozessen um Annahmeverzugsvergütung Bedeutung zukommen.
Fazit
Die Neuerungen sind erster Linie für Versicherte relevant und zu begrüßen, da sie eine Reihe praktischer Probleme beseitigen. Arbeitgeber sollten die materiell-rechtlichen und prozessualen Implikationen kennen und in arbeitsgerichtlichen Verfahren berücksichtigen. Rechtsgestaltend dürfte sich unter mehreren Gesichtspunkten die Schaffung von Regelungen anbieten, welche den Arbeitnehmer verpflichten, ein vom Arzt verbindlich festgestelltes Enddatum unverzüglich mitzuteilen.
Update
Zum 1.1.2023 ist die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingeführt worden. Sie löst damit den „Gelben Schein“ – die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) in Papierform – ab. Zukünftig müssen Arbeitgeber proaktiv auf Grundlage der Krankmeldung durch den Arbeitnehmer die AU-Bescheinigung bei der Krankenkasse über das Entgeltabrechnungssystem, eine Ausfüllhilfe oder ein zertifiziertes Zeiterfassungssystem abrufen (siehe auch unsere FAQ).
Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Sie begründet aber keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Das BAG hat im Jahr 2021 einen Fall entschieden, bei dem es dem Arbeitgeber gelang, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern (zur Besprechung des Urteils). Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer am Tag der Krankschreibung sein Arbeitsverhältnis gekündigt hat und die Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. Zweifel an der Richtigkeit der AU können sich auch insbesondere dann ergeben, wenn am Ende einer bereits sechswöchigen Arbeitsunfähigkeit eine erneute Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer neuen Erkrankung bescheinigt wird, um einen erneuten Entgeltfortzahlungsanspruch auszulösen.
Das Kästchen „Endbescheinigung“ befindet sich nicht auf der Vorlage, welche dem Arbeitgeber vorzulegen ist. Ein Anspruch des Arbeitgebers auf Mitteilung des Enddatums besteht nicht. Etwaige betriebliche oder ggf. arbeitsvertragliche Regelungen werden in der Regel unwirksam sein. Der Arbeitgeber ist jedoch durch die Angabe des voraussichtlichen Endes der Arbeitsunfähigkeit ausreichend geschützt.
Macht der Arbeitgeber von seinem Recht nach § 5 Abs.1 Satz 3 EFZG Gebrauch und verlangt die Vorlage einer AU-Bescheinigung bereits für die ersten drei Tage der Arbeitsunfähigkeit, besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nur, wenn die betreffende Maßnahme des Arbeitgebers auf einem kollektiven Tatbestand beruht. Ein solches besteht nur, wenn die Maßnahme auf einer Regel oder einer über den Einzelfall hinausgehenden Handhabung beruht (mehr dazu lesen Sie hier).
,,,, ein sehr interessanter Beitrag, Herr Altstadt, sobald ich wieder mal Arbeit finden sollte, werde ich mich an Ihre sehr informativen Ausführungen erinnern und mich bei Ihnen melden !
Sehr guter Artikel. Ich lerne sehr gerne über diese Sachen und alles hier ist sehr gut gesagt. Danke dafür. VG