Erkrankt ein Arbeitnehmer im laufenden Urlaubsjahr dauerhaft, verfallen seine Urlaubsansprüche 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber rechtzeitig seiner Mitwirkungsobliegenheit nachgekommen ist. Doch was gilt, wenn ein Arbeitnehmer so früh im Jahr erkrankt ist, dass es dem Arbeitgeber nicht rechtzeitig möglich war, ihn zu belehren? Führt die fehlende Mitwirkung zum vollständigen oder nur anteiligen Erhalt des Urlaubsanspruchs? Fragen wie diese beantwortete jüngst das BAG (9 AZR 107/20).
Bisherige Rechtsprechung zum Urlaubsverfall bei Langzeiterkrankten
Stand der Rechtsprechung was bisher: Erkrankt ein Arbeitnehmer im laufenden Urlaubsjahr dauerhaft, verfällt der Urlaub bei durchgehender Erkrankung zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres (15 Monatsfrist). Allerdings nur, wenn der Arbeitnehmer vor der im Urlaubsjahr eintretenden Erkrankung belehrt worden ist, der Arbeitgeber mithin seiner Mitwirkungsobliegenheit ordnungsgemäß nachgekommen ist (EuGH vom 22.9.2022 – C-518/20 und C-727/20, siehe Blogbeitrag vom 14.12.2022).
War der Arbeitnehmer hingegen bereits ab Beginn des Urlaubsjahres durchgängig bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres erkrankt, verfällt der Anspruch auch ohne Belehrung vollständig.
Die jüngste Entscheidung des BAG
Nicht anders sieht es laut jüngster BAG-Entscheidung aus, wenn die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr eintritt, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, zuvor seiner Mitwirkungsobliegenheit nachzukommen. Dann verfällt der Urlaubsanspruch bei fortdauernder Erkrankung des Arbeitnehmers auch ohne Mitwirkung vollständig mit Ablauf des 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres.
Mitwirkung „ohne schuldhaftes Zögern“
Doch bis zu welchem Zeitpunkt hat der Arbeitgeber somit Zeit, seine Arbeitnehmer aufzufordern, ihren Urlaub zu nehmen und sie auf den sonst eintretenden Verfall des Urlaubs hinzuweisen?
Das BAG gibt erfreulicherweise eine klare Leitlinie vor: Mit Entstehung des vollständigen Urlaubsanspruchs zum 1.1. des jeweiligen Urlaubsjahres muss der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit unverzüglich i.S.v. § 121 Abs. 1 S. 1 BGB nachkommen, wenn er sich später erfolgreich auf den Verfall nach der 15 Monatsfrist berufen möchte. Unverzüglich meint ohne schuldhaftes Zögern. Dies erfordere eine Betrachtung im Einzelfall, ohne Vorliegen besonderer Umstände (wie etwa Betriebsferien zu Jahresbeginn) sieht das BAG hierbei eine Zeitspanne von einer (Urlaubs-)Woche als ausreichend an, in welcher der Arbeitgeber die Urlaubsansprüche berechnen sowie die Belehrung formulieren kann.
Für die Einhaltung dieser „Frist“ kommt es auf den Zeitpunkt des Zugangs der Belehrung beim Arbeitnehmer an, der also spätestens eine Woche nach Entstehung des Urlaubsanspruches zu erfolgen hat. Erkrankt der Arbeitnehmer also innerhalb dieses dem Arbeitgeber für die Belehrung zugestandenen Zeitraums, verfällt der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers bei durchgängiger Erkrankung zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres vollständig.
Teilweiser Verfall möglich
Das BAG stellt weiter klar, dass Urlaubstage generell nur in dem Umfang erhalten bleiben können, mithin nicht nach Ablauf der 15 Monatsfrist verfallen, in dem der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit im laufenden Urlaubsjahr tatsächlich hätte in Anspruch nehmen können. In dem Umfang, in dem der Arbeitnehmer den vollständigen Urlaub trotz (hypothetischer) Belehrung durch den Arbeitgeber aus gesundheitlichen Gründen nicht hätte antreten können, verfalle der Anspruch nach Ablauf der 15 Monatsfrist. Diese für den gesetzlichen Mindesturlaub aufgestellten Grundsätze gelten laut BAG ebenso für tariflichen Mehrurlaub, sofern die Tarifvertragsparteien diesen nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben regeln.
Was heißt das konkret?
Die Konsequenzen dieser aufgestellten Grundsätze lassen sich am besten anhand des vom BAG entschiedenen Falles darstellen. Zum 1 Januar 2016 entstand dem Arbeitnehmer ein Urlaubsanspruch von 30 Tagen für das Urlaubsjahr 2016. Die Abgeltung dieser Urlaubstage verlangte er nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses im Jahr 2019. Er war vom 18. Januar 2016 bis zur Beendigung durchgehend langzeiterkrankt. Der Arbeitgeber hatte seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt.
Das BAG entschied, dass mit Ablauf des 31. März 2018 von 30 Urlaubstagen 25 verfallen waren:
- Zwischen dem ersten Werktag (Montag, den 4. Januar 2016) und dem letzten Arbeitstag des Arbeitnehmers vor seiner Erkrankung (Freitag, den 15. Januar 2016) lagen zehn Arbeitstage, in denen der Urlaubsanspruch hätte erfüllt werden können. Die Inanspruchnahme der weiteren 20 Urlaubstage war im Urlaubsjahr 2016 als auch in der 15 Monatsfrist unabhängig davon unmöglich, dass der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen war. Die 20 Urlaubstage verfielen daher auch ohne Belehrung.
- Der Arbeitgeber hätte seine Mitwirkungsobliegenheit zudem nicht vor dem 8. Januar 2016 (5. Werktag) erfüllen müssen. Während der bis dahin verstrichenen fünf Arbeitstage trage der Arbeitnehmer das Risiko des Nichtverfalls der Urlaubsansprüche wegen Langzeiterkrankung. Mit anderen Worten: Von den potenziell erfüllbaren Urlaubstagen zwischen Jahresbeginn und Beginn der Langzeiterkrankung verfallen auch noch diejenigen, die dem Arbeitgeber zugestanden werden, um seiner Mitwirkungsobliegenheit nachzukommen. Daher sind weitere fünf Urlaubstage des Arbeitnehmers verfallen.
Praxishinweise
Die Entscheidung des BAG gibt Arbeitgebern eine klare Zeitspanne vor, in der sie unter normalen Umständen ihrer Mitwirkungsobliegenheit nachzukommen haben, um sicherzugehen, dass der Anspruch auf Urlaub auch für den Fall der frühzeitig im Urlaubsjahr eintretenden Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf von 15 Monaten verfällt. Eines der ersten To-dos des neuen Jahres sollte daher die ausdrückliche „Urlaubsbelehrung“ innerhalb der ersten Jahreswoche sein.
Bei neu eingestellten Arbeitnehmern dürfte diese Vorgabe entsprechend gelten: Innerhalb einer Woche seit Entstehen des vollen Urlaubsanspruchs, mithin nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses (vgl. § 4 BUrlG), sind die Arbeitnehmer zu belehren.