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Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – eine Bestandsaufnahme fast ein Jahr nach Einführung

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Die Digitalisierung schreitet in großen Schritten voran und erfasst immer neue Bereiche der Arbeitswelt. Diese Entwicklung hat nunmehr auch einen Klassiker des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts „erwischt“ – den sog. „gelben Schein“, der zu Jahresbeginn durch die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) ersetzt wurde. Ziele des Gesetzgebers waren Bürokratie-Abbau und weniger Aufwand für alle Beteiligten (BT-Drs. 19/13959, S. 2), insbesondere für die Arbeitnehmerinnen*.

Über die zum 1. Januar 2023 eingetretenen Änderungen und Anforderungen hatten wir am 25. Januar 2023 in einem Blog-Beitrag mit einem Q&A ausführlich informiert. Mit diesem Beitrag wollen wir eine erste Zwischenbilanz ziehen, erste Praxiserfahrungen darstellen und einen Ausblick auf anstehende Veränderungen geben.

Zwischenbilanz der eAU

Bei der Implementierung neuer (digitaler) Systeme und Prozedere ist in Deutschland eigentlich immer mit gewissen Problemen in der Anfangsphase zu rechnen – so auch bei der eAU: Über Monate hinweg wurde über Verzögerungen und Chaos bei der Umsetzung berichtet. Grund hierfür war, dass teilweise Arztpraxen, aber auch Arbeitgeberinnen, noch gar nicht an das digitale Netz angeschlossen waren. Und selbst wenn eine entsprechende Schnittstelle bestand, konnte der Abruf der Daten vielfach nicht, wie vorgesehen, am nächsten Tag erfolgen, sondern teilweise erst einige Wochen später. Einerseits mussten Arbeitgeberinnen deshalb die Anfragen mehrfach stellen. Andererseits war die Folge (und ist es teilweise immer noch), dass die Ausstellung von (Ersatz-)Bescheinigungen in Papier rege genutzt wurde. In manchen Fällen erfolgte die Ausstellung auch prophylaktisch in Papierform. Diese Doppelung der Prozesse führte für Arbeitgeberinnen zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand und Chaos in der Lohnbuchhaltung. Ein solcher ergab sich auch in den Fällen, in denen die eAU wegen Verzögerungen erst nach der Lohnabrechnung zur Verfügung stand und dann im Folgemonat korrigiert werden musste. Wir haben in der Mandatsarbeit seit Jahresbeginn verschiedene Fälle von Durcheinander und/oder Missbrauch der geänderten Rechtslage beobachten und beraten dürfen.

Darüber hinaus wird das Projekt in konzeptioneller Hinsicht verschiedentlich kritisiert:

  • Die Kritik bezieht sich erstens darauf, dass nunmehr die Arbeitgeberin die eAU aktiv bei der Krankenkasse einholen muss, statt dass wie bislang die Arbeitnehmerin die Vorlagepflicht des „gelben Scheins“ trägt. Dies führt zu einer Verschiebung bzw. neuen Gewichtung der Rechte und Pflichten. Beispielsweise ist die Mitteilungspflicht der Arbeitnehmerin viel gewichtiger geworden, weil die Arbeitgeberin anderenfalls gar nicht weiß, dass sie eine eAU abrufen muss.
  • Zweitens wird bemängelt, dass bislang nur gesetzlich Versicherte an dem eAU-Verfahren teilnehmen – und auch das nicht in allen Fällen (ausgenommen sind z.B. Erkrankung im Ausland, Krankheit des Kindes). Damit entsteht bei der Arbeitgeberin ein „Flickenteppich“, der gegenwärtig zu einem bürokratischen Mehraufwand in Unternehmen führt, und der ferner das Potential hat, Konfusion zu verursachen und damit am Gesetzeszweck vorbeigeht.
  • Drittens besteht für Arbeitgeberinnen das Problem, dass die eAU keine Auskunft mehr über den ausstellenden Arzt, dessen Sitz und dessen Fachrichtung enthält. Der Arbeitgeberin fehlt damit ein relevanter Anhaltspunkt für potenzielle Missbrauchsversuche (z.B. vorgetäuschte AU; tatsächliche Folgeerkrankung trotz Erstbescheinigung). Auch wird § 275 Abs. 1a S. 1 b) SGB V (Einschalten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse bei Zweifeln an der AU, aufgrund der auffälligen Häufigkeit der von dem Arzt ausgestellten Bescheinigungen über die AU) in seiner Wirkungskraft weitestgehend unterwandert.

Umstritten ist noch immer, welcher Beweiswert der eAU beizumessen ist. Bislang war man sich darüber einig, dass der Papierbescheinigung ein hoher Beweiswert zukommt. Im Hinblick auf die elektronische Form geht der Gesetzgeber selbst offenbar davon aus, dass es sich bei der eAU nicht um ein „geeignetes elektronisches Äquivalent“ handelt (BT-Drs. 19/13959, S. 37).

Neue Abrufmöglichkeit der eAU und weitere anstehende Änderungen beim SV-Meldeportal  

Der Abruf der eAU kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. Zum einen kann die eAU direkt dem Payroll-Programm zufließen und in diesem verarbeitet werden. Voraussetzung ist, dass das Payroll-Programm „systemgeprüft“ ist, also durch die informationstechnische Servicestelle der Gesetzlichen Krankenversicherung (ITSG) geprüft und zertifiziert wurde. Zum anderen kann der Abruf der Daten über die Anwendung sv.net erfolgen.

Für diejenigen, die Letzteres verwenden, steht zum Jahreswechsel nun die nächste Änderung von erheblicher Reichweite an. Mit § 95a SGB IV hat der Gesetzgeber den GKV-Spitzenverband mit der Umsetzung einer Ausfüllhilfe mit Online-Datenspeicher für den Datenaustausch mit Sozialversicherungsträgern beauftragt. Nach 23 Jahren wird daher die Anwendung „sv.net“ schrittweise bis zum 29. Februar 2024 eingestellt und dann vollständig abgeschaltet. Im Jahr 2001 war sv.net eingeführt worden für Arbeitgeber, die keine Entgeltabrechnungssoftware einsetzen, es bietet unter anderem die Möglichkeit Sozialversicherungsmeldungen, Beitragsnachweise, den digitalen Lohnnachweis zur Unfallversicherung auf dem vorgeschriebenen elektronischen Weg verschlüsselt zu übermitteln. Abgelöst wird das Programm durch das neue SV-Meldeportal. Das SV-Meldeportal ist eine komplett neu entwickelte, browserbasierte Ausfüllhilfe. Abrufbar ist die Anwendung unter sv-meldeportal.de. Es wird eine Nutzungsgebühr erhoben. Für die Nutzung des SV-Meldeportals ist die Registrierung jedes Nutzers erforderlich. Dafür bedarf es eines ELSTER-Organisationszertifikats, welches ggf. vorab beantragt werden muss. Außerdem ist eine Datenübertragung von sv.net zum SV-Meldeportal nicht möglich. Deshalb ist eine gewisse Vorlaufzeit einzuplanen.

Fazit

Das neue SV-Meldeportal hält neben den bekannten Funktionen einige technische Neuerungen bereit und lässt deshalb Erleichterungen beim Abruf der Daten erwarten. Allerdings ist unsere Erfahrung, dass die Probleme der eAU nicht im Rahmen der Anwendung von sv.net bestanden, sondern in den vorgeschalteten Prozessen lagen, weshalb das neue SV-Meldeportal diese voraussichtlich nicht beheben können wird.

Wir sind dennoch zuversichtlich, dass die technischen Abläufe bei allen an der eAU Beteiligten mit der Zeit angepasst und optimiert werden. Wir raten Ihnen deshalb, auch die eigenen Prozesse zu überprüfen und – soweit erforderlich – zu überarbeiten, beispielsweise durch Änderung der Arbeitsverträge dahingehend, dass die Meldepflicht der Arbeitnehmerinnen konkretisiert wird.

Dieser Beitrag ist mit freundlicher Unterstützung von Emil Schneider (Referendar im Berliner Büro) entstanden.

* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Jakob Friedrich Krüger

Rechtsanwalt

Counsel
Jakob F. Krüger berät nationale und internationale Unternehmen. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Vorbereitung von Kündigungen und anschließender Prozessführung. Zudem berät er Mandanten in der Gestaltung von Anstellungs-, Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen sowie zu Fragen des Betriebsverfassungsrechts. Jakob F. Krüger ist ein aktives Mitglied der International Practice Group für Data Privacy bei Ius Laboris, dem Zusammenschluss der international führenden Arbeitsrechtskanzleien, und berät häufig an der Schnittstelle zwischen Arbeitsrecht und Datenschutz, z.B. bei der Einführung von IT-Systemen. Aufgrund dieser Expertise ist er Mitglied der Fokusgruppe „Digitalisierung von Unternehmen“. Ferner unterstützt er die Entwicklung von Legal Tech Anwendungen als Mitglied des Innovation Teams.
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