Wie gruppiert der Arbeitgeber seine Mitarbeiter ein, wenn sein Betrieb in den Anwendungsbereich verschiedener Gehaltstarifverträge fällt, von denen einer nur noch nachwirkt? Welche Rechte hat der Betriebsrat dabei? Das Bundesarbeitsgericht entscheidet im Sinne einer umfassenden Eingruppierungspflicht in alle geltenden Tarifverträge – soweit diese schon am 10. Juli 2015 galten.
Was war passiert?
Die Arbeitgeberin – eine Bank – war Mitglied des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (AVR). Hierdurch war die Arbeitgeberin an jeweils eigenständige Gehalts- und Manteltarifverträge mit vier Gewerkschaften gebunden. Im Jahr 2004 wurden diese Verträge neugefasst. In zwei Fällen war inzwischen die Gewerkschaft ver.di die neue Tarifvertragspartei. Bis 2013 wurden alle bestehenden Gehaltstarifverträge sowie der Manteltarifvertrag mit ver.di gekündigt. Der AVR schloss mit zwei Gewerkschaften (DBV und DHV) neue Manteltarifverträge, die eine veränderte Vergütungsstruktur vorsahen. Die Arbeitgeberin nahm diese Tarifverträge arbeitsvertraglich in Bezug und gruppierte ihre Mitarbeiter im Folgenden nur hiernach ein. Der Betriebsrat war jedoch der Ansicht, die im Betrieb geltende Vergütungsordnung richte sich nach den ver.di Tarifverträgen und sah sein Mitbestimmungsrecht aus § 99 Abs. 1 BetrVG bei Eingruppierungen verletzt.
Das Bundesarbeitsgericht erteilte nun den Rechtsauffassungen beider Parteien eine Absage (BAG, Beschl. v. 23.08.2016 – 1 ABR 15/14) und setzte damit seine Rechtsprechung zu den betriebsverfassungsrechtlichen Auswirkungen der Tarifpluralität fort.
Rechtliche Einordnung
Nach § 99 Abs. 1 S. 1 BetrVG hat der Arbeitgeber bei jeder Ein- bzw. Umgruppierung eines Arbeitnehmers den Betriebsrat zu beteiligen. Unter Eingruppierung versteht man dabei die Einordnung einzelner Arbeitnehmer in ein kollektives Entgeltschema. Hinsichtlich der ordnungsgemäßen Anwendung der geltenden Vergütungsordnungen hat der Betriebsrat ein sogenanntes Mitbeurteilungsrecht bezüglich der richtigen Rechtsanwendung (BAG, Beschl. v. 14.04.2015 – 1 ABR 66/13). Bei Missachtung eines Entgeltschemas kann er die Zustimmung verweigern.
Tarifvertrag als geltende Vergütungsordnung auch ohne Tarifbindung der Arbeitnehmer?
Ist ein Arbeitgeber tarifgebunden, so ist er betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet, ein sich hieraus ergebendes Entgeltschema nach § 99 Abs. 1 BetrVG im Betrieb anzuwenden – und dies sogar unabhängig davon, ob die Arbeitnehmer tarifgebunden sind (BAG, Beschl. v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10). Diese „betriebliche Allgemeinverbindlichkeit“ besteht, weil Normen, die Vergütungsregelungen zum Inhalt haben, gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen. Dennoch ist der Betriebsrat aufgrund des Tarifvorbehalts des § 87 Abs. 1 1. HS BetrVG an der Mitwirkung gehindert, da im Geltungsbereich eines Tarifvertrages keine Betriebsvereinbarung zum gleichen Regelungsgegenstand abgeschlossen werden kann. So eröffnen sich Schutzlücken für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer. Die Rechtsprechung wendet daher die entsprechenden tarifvertraglichen Normen auch auf nichtorganisierte Mitarbeiter an.
Der Betriebsrat hat allerdings nur hinsichtlich der geltenden Entlohnungsgrundsätze mitzubestimmen. Die konkrete Entgelthöhe bleibt Sache des Arbeitgebers. Daher führt die Pflicht zur Eingruppierung in einen geltenden Tarifvertrag nur zur Übertragung der Verteilungsgrundsätze.
Ist ein nachwirkender Tarifvertrag eine geltende Vergütungsordnung?
Auch ein nachwirkendes – weil gekündigtes – Tarifwerk ist ein geltender Entlohnungsgrundsatz im Sinne des § 99 Abs. 1 BetrVG. Dessen Entgeltschema verliert erst durch einen wirksamen Änderungsakt seine betriebsverfassungsrechtliche Gültigkeit (BAG, Beschl. vom 14.04.2010 – 7 ABR 91/08). Einseitig kann sich der Arbeitgeber nicht lösen. Eine wirksame Abweichung bedürfte – soweit sie nicht durch Tarifvertrag zwischen den identischen Normgebern erfolgt – nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats.
Ausweitung der betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten bei Tarifpluralität
Die oben skizzierte Rechtsprechung führt das Bundesarbeitsgericht in dem vorliegenden Beschluss nun konsequent weiter: Denn die Anwendung dieser Grundsätze führt zu einem Nebeneinander des nachwirkenden ver.di Tarifvertrags und der DBV/DHV-Verträge und damit zu einer betrieblichen Tarifpluralität. Diese erweitert die Pflichten des Arbeitgebers derart, dass er die Arbeitnehmer unter Beteiligung des Betriebsrates den Entgeltgruppen beider Tarifverträge zuzuordnen hat.
Und das Prinzip der Tarifeinheit?
Auch das Prinzip der Tarifeinheit (§ 4a Abs. 2 TVG) führte im vorliegenden Fall nicht zur Verdrängung eines Tarifvertrages. Denn gemäß § 13 Abs. 3 TVG gilt der neue Grundsatz „Ein Betrieb – Ein Vertrag“ nur für Tarifverträge, die nach dem 10.07.2015 wirksam geworden sind. Für die vielen gültigen Tarifverträge, die schon zuvor Geltung hatten und haben, ist der vorliegende Beschluss des Bundesarbeitsgerichts daher beachtlich.
Tarifverträge, die später Geltung erlangt haben, sind aber nach § 4a Abs. 2 TVG zu behandeln. Bezüglich dieser wird dann ein konkurrierendes Entgeltschema fehlen, wenn die Eingruppierungsnormen eines durch eine Minderheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrages verdrängt werden. Dies wird aber nur dann auch künftig Bestand haben, wenn das Bundesverfassungsgericht den fünf Verfassungsbeschwerden einiger Spartengewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz nicht entspricht. Über die Frage, ob das Gesetz in unzulässiger Weise in Grundrechte aus Art. 9 Abs. 3 GG eingreift, wird am 24. und 25. Januar 2017 verhandelt. Wir werden berichten.
Auswirkungen auf die Praxis
Ist der Arbeitgeber mehrfach tarifgebunden, so genügt es nicht, den einzelnen Arbeitnehmer nur nach einem Tarifvertrag einzugruppieren. Die Einordnung in mehrere Tarifverträge unter Beteiligung des Betriebsrates ist notwendig.
Die individualrechtlichen Vergütungansprüche der Arbeitnehmer bleiben hiervon unberührt. Individualrechtlich kommt es nach wie vor hinsichtlich der Frage, nach welchem Tarifvertrag die Vergütung erfolgen muss, vor allem auf die Tarifgebundenheit oder eine vertragliche Bezugnahmeklausel an.