Der EuGH verhandelt heute in der Rechtssache C-566/15 über eine Vorlagefrage des Kammergerichts Berlin. Der Ausgang des Verfahrens könnte eine Zäsur im deutschen Verständnis der Unternehmensmitbestimmung darstellen und eine Vielzahl von international agierenden Konzernen vor ganz neue Herausforderungen stellen.
In der Sache geht es um die Frage, ob Arbeitnehmer, die im europäischen Ausland beschäftigt sind, bei Wahlen zum Aufsichtsrat nach dem deutschen Mitbestimmungsgesetz mitwählen dürfen und auch selbst wählbar sind. Es entspricht bislang nahezu einhelliger Meinung, dass im umgekehrten Fall Arbeitnehmer deutscher Unternehmen im EU-Ausland bei dortigen Wahlen zum Aufsichtsrat weder aktiv noch passiv wahlberechtigt sind. Verstößt das deutsche MitbestimmungsG gegen Europarecht, könnten diese hergebrachten Ansichten aber ins Wanken geraten.
Die (nationale) Rechtsprechung ist zu dieser Frage bislang gespalten (für eine Europarechtskonformität: OLG Zweibrücken (Beschluss vom 20.2.2014 – 3 W 150/13), LG München I (Beschluss vom 27.8.2015 – 5 HK O 20285/14), LG Berlin (Beschluss vom 1.6.2015– 102 O 65/14 AktG), dagegen: LG Frankfurt und (einen Verstoß zumindest für möglich haltend) das KG Berlin (wir berichteten).
Entsprechend hat das KG Berlin die bei ihm im Statusverfahren nach § 98 AktG anhängige Beschwerde ausgesetzt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob das deutsche Mitbestimmungsgesetz in seiner derzeitigen Form und Auslegung gegen Artikel 18 und 45 AEUV (Diskriminierungsverbot, Arbeitnehmerfreizügigkeit) verstößt.
Der Antragsteller im Vorabentscheidungsverfahren meint, die deutschen Mitbestimmungsstatuten benachteiligten EU-Bürger aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit. Er sieht die Gefahr einer einseitigen Berücksichtigung (nur) der Interessen von im Inland beschäftigten Arbeitnehmern bei Unternehmerentscheidungen (im Fall des KG Berlin: ca. 10.000 Arbeitnehmer im Inland, ca. 40.000 Arbeitnehmer im Ausland). Zudem sieht er eine mögliche Beeinträchtigung der Freizügigkeit, da Arbeitnehmer aufgrund des Verlustes ihrer Wählbarkeit davon abgehalten werden könnten, mit ihrem Arbeitsverhältnis konzernintern ins Ausland zu wechseln.
Folgt der EuGH dieser Argumentation, wäre der Aufsichtsrat der Arbeitgeberin rechtswidrig zusammengesetzt – sämtliche Arbeitnehmervertreter wären dann nicht länger Teil des Aufsichtsrates. Paritätisch mitbestimmte Unternehmen könnten genötigt sein, ihre Aufsichtsratswahlen zu wiederholen; drittelmitbestimmte Unternehmen plötzlich zu möglicherweise paritätisch mitbestimmten werden. Neben diesem „Paukenschlag“ wäre auch die Finanzierung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung massiv in Frage gestellt.
Der deutsche Gesetzgeber wäre dann gehalten, das MitbestimmungsG zu novellieren und auch in Europa beschäftigten Arbeitnehmern ein aktives und passives Wahlrecht in deutschen Aufsichtsratswahlen zu ermöglichen. Derzeit gibt es in Deutschland mehr als 600 Unternehmen mit jeweils mehr als 2.000 Mitarbeitern, die nach dem MitbestimmungsG der paritätischen Mitbestimmung unterfallen.
Vertiefungshinweis:
Zu den Konsequenzen einer möglichen Europarechtswidrigkeit des Mitbestimmungsgesetzes im Detail finden Sie mehr im Blog-Beitrag von Alexa Paehler: Sind deutsche Mitbestimmungsgesetze europarechtswidrig?