Mit Wirkung ab dem 1. Juli 2022 bricht das digitale Zeitalter nunmehr auch für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) an. Der „gelbe Schein“ gehört zukünftig weitgehend der Vergangenheit an. Die gesetzgeberisch verfolgte Entbürokratisierung wirft allerdings auch Fragen für die arbeitsrechtliche Praxis auf.
Im Folgenden beleuchten wir den zukünftig arbeitgeberseitig mit der Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung zu beachtenden Rechtsrahmen und die sich hieraus potenziell ergebenden Hürden für die Arbeitspraxis.
Der status quo
In seiner gegenwärtig noch geltenden Fassung normiert § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) zwei grundlegende Pflichten des Arbeitnehmers:
- die Pflicht die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen (Anzeigepflicht), § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG und
- die Pflicht bei einer Arbeitsunfähigkeit, die länger als drei Tage dauert, spätestens am darauffolgenden Tag dem Arbeitgeber eine AU-Bescheinigung vorzulegen (Nachweispflicht), § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG.
Unter anderem zur Erfüllung dieser gesetzlichen Nachweispflicht bestand die bisher vom behandelnden Arzt auszustellende AU-Bescheinigung aus 4-Teilen/Ausfertigungen:
- einer Ausfertigung für die Krankenkasse;
- einer informatorisch reduzierten Ausfertigung für den Arbeitgeber („gelber Schein“);
- einer Ausfertigung für den Arbeitnehmer und
- einer Ausfertigung für den behandelnden Arzt.
Änderung durch das Dritte Bürokratieentlastungsgesetz: „Schöne neue Welt“
Mit dem sog. dritten Bürokratieentlastungsgesetz und insbesondere der Einführung von § 5 Abs. 1a EFZG soll dem bis dato entstehenden „Zettelsammelsurium“ ein Ende gesetzt, der damit verbundene Meldeprozess „entbürokratisiert“ werden.
Achtung Spoiler: Damit einher geht aber auch, dass die bislang generell geltende Nachweispflicht des Arbeitnehmers weitgehend (hierzu sogleich) aufgehoben, die bislang geltende Pflicht des Arbeitnehmers, dem Arbeitgeber den „gelbe Schein“ vorzulegen, gesetzlich weitestgehend begraben wird.
In der „schönen neuen Welt“ befreit § 5 Abs. 1a EFZG nunmehr gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer von der bislang geltenden gesetzliche Nachweispflicht. Für diese gestaltet sich der AU-Bescheinigungsvorgang fortan wie folgt:
- Der behandelnde Arzt übermittelt die festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten zunächst elektronisch an die jeweils zuständige Krankenkasse.
- Eine informatorisch reduzierte, für den Arbeitgeber bestimmte verkörperte AU-Bescheinigung („gelber Schein“) stellt der behandelnde Arzt zukünftig nicht weiter aus. Die für den Arbeitgeber relevanten Arbeitsunfähigkeitsdaten sind fortan vielmehr vom Arbeitgeber selbst (!) unmittelbar bei der jeweilen Krankenkasse elektronisch abzurufen
- Aus Beweisgründen (für sog. „Störfälle“) erhält lediglich der jeweilige Arbeitnehmer – bis auf weiteres – eine verkörperte AU-Bescheinigung.
Die bislang (generell) geltende gesetzliche Nachweispflicht ist für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer damit entfallen. Für diese besteht fortan lediglich eine gesetzliche Obliegenheit, sich eine AU-Bescheinigung vom behandelnden Arzt aushändigen zu lassen. Eine Pflicht zur Vorlage dieser Bescheinigung beim Arbeitgeber statuiert das Gesetz dagegen ausdrücklich nicht.
Bestehen bleibt die Nachweispflicht dagegen für geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten oder wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch Ärzte erfolgt, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
Ab wann gilt was?
Die Verpflichtung der behandelnden Ärzte zur Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten an die jeweils zuständigen Krankenkassen besteht seit dem 1. Januar 2022. Der Wegfall der gesetzlichen Nachweispflicht (also der Verpflichtung der gesetzlich versicherten Arbeitnehmer zur Vorlage des gelben Scheins beim Arbeitgeber) greift dagegen erst mit Wirkung zum 1. Juli 2022.
Offene Fragen
Ob die gesetzliche Neuregelung eine grundlegende Anpassung der– weitgehend einheitlichen – arbeitsvertraglichen Musterformulierungen erfordert, bleibt abzuwarten. Für einen Anpassungsbedarf (bei gesetzlich versicherten Arbeitnehmern) spricht zunächst, dass rein faktisch kein „gelber Schein“ mehr ausgestellt und damit dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden kann. Faktisch möglich wäre allenfalls die Vorlage der vom behandelnden Arzt dem betreffenden Arbeitnehmer auszustellenden AU-Bescheinigung. Ob hieraus arbeitsvertraglich eine generelle Vorlagepflicht konstruiert und damit die „alte Welt“ durch die Hintertür wieder hergestellt werden kann, erscheint zweifelhaft. Soweit die ausgehändigte AU-Bescheinigung – anders als der „gelbe Schein“ bislang – besonders sensible Gesundheitsdaten des betreffenden Arbeitnehmers enthält (die der Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden Diagnosedaten), fehlte es dem Arbeitgeber auch zukünftig an einem berechtigten Interesse an der Offenlegung dieser Daten. Aber selbst wenn die dem Arbeitnehmer ausgestellte AU-Bescheinigung keine solchen sensiblen Gesundheitsdaten enthalten oder der Arbeitnehmer arbeitsvertraglich lediglich zur Vorlage einer (teilweise) geschwärzten Fassung der ihm ausgestellten AU-Bescheinigung verpflichtet werden sollte, sind entsprechend formulierte Arbeitsvertragsklauseln kritisch zu bewerten. Schließlich normiert § 12 EFZG ein generelles gesetzliches Verbot, von den gesetzlichen Vorschriften zuungunsten des Arbeitnehmers abzuweichen. Nachdem sich der Gesetzgeber dazu entschieden hat, die bislang den Arbeitnehmer treffende gesetzliche Nachweispflicht aufzuheben, ist einer anderslautenden (zuungunsten des Arbeitnehmers) gestalteten Arbeitsvertragsregelung zur Herstellung des status quo ante wegen § 12 EFZG der Riegel vorgeschoben.
Auch mit Blick auf das in § 7 EFZG geregelte Leistungsverweigerungsrecht hat es der Gesetzgeber unbewusst spannend gemacht. Schließlich knüpft dieses auch weiterhin an die Pflicht des Arbeitnehmers zur Vorlage der AU-Bescheinigung an. Nachdem die Nachweispflicht für gesetzlich Versicherte durch die Neueinfügung von § 5 Abs. 1a EFZG allerdings entfallen ist, bleibt offen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber von seinem Leistungsverweigerungsrecht Gebrauch machen kann. Ausgehend von der eingeschränkten Zielsetzung des „Bürokratieentlastungsgesetzes“ ist indes davon auszugehen, dass der Gesetzgeber keine Neuregelung Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers vornehmen wollte; die unterbliebene Anpassung des § 7 EFZG vielmehr ein bloßes Redaktionsversehen darstellt.