In der Gesellschaftsform der Europäischen Aktiengesellschaft (lat. Societas Europaea – SE) kann die Unternehmensmitbestimmung in einer sog. Beteiligungsvereinbarung zwischen Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertretung geregelt werden. Nur wenn keine Einigung erzielt werden kann, gelten gesetzliche Auffangregelungen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE. Dieser Vorrang der Verhandlungslösung eröffnet attraktive Gestaltungsspielräume. Mit deren Grenzen hat sich jüngst der Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az. C-677/20) beschäftigt. Wir erläutern Ihnen Hintergrund, Inhalt und Auswirkungen dieser Entscheidung.
Die Unternehmensmitbestimmung ermöglicht Arbeitnehmern eine Einflussnahme auf wirtschaftliche Entscheidungen. Sie wird durch die Besetzung des Aufsichtsrates, der den Vorstand kontrolliert, wahrgenommen. Bei Aktiengesellschaften deutschen Rechts (AG) mit in der Regel mehr als 2.000 Beschäftigten richtet sich die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) – sehen Sie dazu auch unseren Blogbeitrag vom 14. Mai 2019.
Das MitbestG legt nicht nur fest, dass der Aufsichtsrat zur Hälfte aus Arbeitnehmern bestehen muss (sog. paritätische Besetzung), sondern auch, dass sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer eine bestimmte Anzahl von Vertretern von Gewerkschaften befinden muss (vgl. § 7 Abs. 2 MitbestG).
Die Wahl dieser Gewerkschaftsvertreter ist gemäß § 16 MitbestG in einem von der Wahl der unternehmensangehörigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang durchzuführen. Verbunden mit dieser gesonderten Wahl ist eine Sitzgarantie der Gewerkschaften im Aufsichtsrat; sie stellt sicher, dass sich unter den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat von den Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter befinden.
Wie der EuGH nun festgestellt hat, kann hiervon durch eine Beteiligungsvereinbarung jedenfalls bei Gründung einer SE im Wege der Formumwandlung nicht abgewichen werden.
Anlass der EuGH-Entscheidung: Vorlagefrage des BAG aus 2020
Den Anlass für die eingangs zitierte EuGH-Entscheidung lieferte eine Vorlagefrage des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 2020 (sehen Sie dazu auch unseren Blogbeitrag vom 7. Oktober 2020).
In dem zugrundeliegenden Rechtsstreit ist eine SE durch formwechselnde Umwandlung gegründet worden. Die im Rahmen des Gründungsverfahrens abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung regelt unter anderem, dass die bisherige Größe des Aufsichtsrats – bei weiterhin paritätischer Besetzung – verkleinert werden kann. Das in der Beteiligungsvereinbarung geregelte Wahlverfahren sah aber – abweichend von den hier für die Ausgangsgesellschaft (einer AG mit mehr als 2.000 Regelbeschäftigten) geltenden Regelungen des MitbestG – keinen separaten Wahlgang für Gewerkschaftsvertreter vor; vielmehr sollten die von den Gewerkschaftsvertretern vorgeschlagenen Personen in einem Wahlgang mit den weiteren Arbeitnehmervertretern gewählt werden.
Dagegen wendeten die im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften ein, dass die aus dem MitbestG folgende Sitzgarantie eine „Komponente der Arbeitnehmerbeteiligung“ sei, die nach § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG) in der Beteiligungsvereinbarung einer durch Umwandlung gegründeten SE zumindest im gleichen Ausmaß gewährleistet werden müsse, wie vor der Umwandlung.
Das BAG hatte den damit verbundenen Auslegungsstreit um die Reichweite des § 21 Abs. 6 SEBG zugunsten der Gewerkschaften entschieden: Bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer in Deutschland ansässigen AG müssten die Parteien der Beteiligungsvereinbarung sicherstellen, dass diejenigen Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer, die deren Einflussnahme auf die Beschlussfassung der Gesellschaft „prägen“, in gleichwertigem Umfang auch in der SE erhalten blieben; zu den Verfahrenselementen, die die Einflussnahme der Arbeitnehmer bei der Unternehmensmitbestimmung prägen, gehörten bei einer nach dem MitbestG mitbestimmten AG das gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.
Da die einschlägige nationale Vorschrift im SEBG auf einer EU-Richtlinie beruht (Richtlinie 2001/86/EG (SE-RL)), die in Art. 4 Abs. 4 eine entsprechende Regelung enthält, legte das BAG allerdings die Frage, ob dieses Verständnis des nationalen Rechts mit Unionsrecht vereinbar sei, dem EuGH vor.
Inhalt der EuGH-Entscheidung: Unionsrechtskonformität der Auslegung des BAG
Der EuGH bestätigte nun im Ergebnis die Auffassung des BAG. Nach seiner Auffassung seien vom Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 4 der SE-RL auch die Modalitäten des Wahlverfahrens umfasst. Für das Ausmaß der durch die Vorschrift gewährleisteten Arbeitnehmerbeteiligung seien die nationalen Rechtsvorschriften maßgebend. Wenn dort ein gesonderter Wahlgang ein prägendes Element darstelle, sei dies auch unionsrechtlich zu gewährleisten.
Auswirkungen
Unmittelbare Auswirkungen hat das Urteil zunächst nur für die im Wege der Rechtsformumwandlung gegründete SE, die zuvor dem MitbestG unterlag und die eine Beteiligungsvereinbarung geschlossen hat.
Die Auswirkungen der Entscheidung im Übrigen – etwa für vor der Rechtsformumwandlung in die SE (nur) nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) mitbestimmte Unternehmen – hängen davon ab, welche Elemente der Arbeitnehmerbeteiligung national künftig ebenfalls als „prägend“ im Sinne des § 21 Abs. 6 SEBG eingestuft werden. Die weiteren Entwicklungen sind deshalb aufmerksam zu beobachten. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf wichtige Folgefragen, wie die nach den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 21 Abs. 6 SEBG. Hierzu fehlt es bislang noch an einer höchstrichterlichen Klärung.
Praxishinweis
Für Unternehmen, deren Beschäftigtenzahl (noch) im Schwellenbereich des DrittelbG liegt (d.h. mit mindestens 500, aber unter 2.000 Beschäftigten) und die sich mit der Idee der Rechtsformumwandlung in eine SE beschäftigen, könnte es sich anbieten, die Umwandlung rechtzeitig umzusetzen, bevor die Schwellenwerte zum MitbestG gerissen werden.
Ist der Schwellenwert von 2.000 Arbeitnehmern bereits erreicht, sollte bei der Gestaltung der Beteiligungsvereinbarung im Zusammenhang mit einer Rechtsformumwandlung das Risiko eines Verstoßes einzelner Regelungen gegen § 21 Abs. 6 SEBG evaluiert werden. Auch wenn die Rechtsformumwandlung bereits stattgefunden hat, lohnt sich ein Blick in existierende Beteiligungsvereinbarungen, um Risiken abzuwägen und so etwaig erforderliche Maßnahmen entwickeln und ergreifen zu können.