Das gesetzliche Haftungsregime für den Aufsichtsrat könnte – angelehnt an seine Pflicht zur Rechtsaufsicht und Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung des Vorstands – kaum strenger ausgestaltet sein. Wie weit die Haftung im Einzelfall gehen kann, zeigt dieser Blog-Beitrag.
Unser Blog-Beitrag vom 22. Februar 2023 hatte sich bereits mit dem hohen gesetzlichen Haftungsrisiko der Tätigkeit im Aufsichtsrat und den ausdifferenzierten Pflichten bei der Prüfung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand befasst. In diesem Sinne bestätigt ein Urteil des BGH vom 18. September 2018 – II ZR 152/17, dass sofern der Aufsichtsrat die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand unterlässt bzw. verjähren lässt, er wiederum selbst für den entstandenen Schaden haftet. Dies geht so weit, dass für den Aufsichtsrat der im Strafrecht anwendbare Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ins Gegenteil verkehrt wird und Verjährungsfristen ausgedehnt werden.
Pflichtwidrige Untätigkeit des Aufsichtsrats
Gegenstand der Entscheidung des BGH war die Inanspruchnahme eines Aufsichtsratsmitgliedes wegen Verletzung seiner Aufsichtsratspflichten, indem er Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied aufgrund verbotener Einlagenrückgewähr bzw. Rückzahlung eigenkapitalersetzender Darlehen hat verjähren lassen. Letztlich war das Aufsichtsratsmitglied durch Übernahme einer Finanzierungsfunktion und Entgegenahme der Auszahlung der Einlage selbst darin verwickelt.
Das beklagte Aufsichtsratsmitglied war in seiner Funktion verpflichtet, eigenverantwortlich Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern aus ihrer organschaftlichen Tätigkeit zu prüfen und unter Beachtung gesetzlicher und satzungsrechtlicher Vorgaben geltend zu machen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus der Aufgabe des Aufsichtsrats, die Geschäftsführung des Vorstands auch hinsichtlich abgeschlossener Geschäftsvorgänge zu überwachen und die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Unterlässt er dies, kämen wiederum Schadensersatzansprüche der Gesellschaft nach §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 S. 1 AktG gegen das Aufsichtsratsmitglied in Betracht.
Abweichend von dem im Strafrecht geltenden Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit nimmt der BGH eine Pflicht von Aufsichtsratsmitgliedern zur Verfolgung von Schadensersatzansprüchen selbst dann an, wenn sich dieses dadurch – wie vorliegend – selbst dem Vorwurf einer Pflichtverletzung aussetzen würde.
Anders ausgedrückt: eine eigene Pflichtverletzung des Aufsichtsrats kann darin liegen, dass er den Vorstand nicht dazu anhält, mögliche Schadensersatzansprüche gegen sich selbst in seiner Funktion als Aufsichtsrat zu verfolgen.
Dies schlussfolgert der BGH aus der besonderen Überwachungs- und Schutzfunktion von Aufsichtsräten, welche im Falle einer Haftungsprivilegierung unterlaufen würde. Die Freistellung von einer Verfolgungspflicht würde gerade denjenigen ungerechtfertigt entlasten, der zum Nachteil der Gesellschaft seine Pflichten verletzt hat- Auf diese Weise soll der auf Seiten der Gesellschaft entstandene Schaden ausgeglichen werden. Zudem dient die Ahndung des vorliegenden Verstoßes gegen kaptalschützende Pflichten nicht nur den Interessen der Gesellschaft, sondern insbesondere ihrer Gläubiger. Solange kein strafbares Verhalten vorliege, widerspreche dies auch nicht dem strafrechtlichen Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit, zumal insoweit ggf. auch Verwertungsverbote in Betracht kämen.
Zusätzlich zeitliche Ausdehnung der Haftung
Die Entscheidung des BGH zeigt einmal mehr die besondere Pflichtenstellung und Haftungsträchtigkeit der Tätigkeit des Aufsichtsrats. Anders als die Vorinstanz ging der BGH zudem davon aus, dass die Ansprüche gegen das beklagte Aufsichtsratsmitglied nicht wiederum verjährt waren. Der BGH nimmt insoweit faktisch eine Verdopplung der Verjährungsfristen an. Für den Beginn der Verjährung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Aufsichtsrat ist danach nicht der Zeitpunkt der jeweiligen Zahlung der Einlage bzw. deren Annahme durch den Aufsichtsrat, sondern der Zeitpunkt der Verjährung des Ersatzanspruchs der Gesellschaft gegen den Vorstand maßgeblich. Der geltend gemachte Schaden aufseiten der Gesellschaft ist erst mit dem Verstreichenlassen der letzten Möglichkeit zur verjährungshemmenden Klageerhebung entstanden. Dies gilt auch dann, wenn die Pflichtverletzung in einer Zurückgewährung einer Einlage an das betroffene Aufsichtsratsmitglied bestehe.
Bei einer Pflichtverletzung eines Vorstands ist daher sorgsam darauf zu achten, dass nicht auch eine entsprechende Pflichtverletzung des Aufsichtsrats durch unzureichende Überwachung des Vorstands eintritt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich angehalten ist, Schadensersatzansprüche gegen Vorstände zu verfolgen. Die vorzunehmende Abwägung, ausnahmsweise von einer Verfolgung von Schadensersatzansprüchen absehen zu können, unterliegt engen Grenzen. An ggf. zu berücksichtigende negative Auswirkungen auf die Gesellschaft, zu denen zuvorderst das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit steht, sind hohe Anforderungen zu stellen und Eigeninteressen des Aufsichtsrats haben außen vor zu bleiben. Dies gilt gleichermaßen auch für den Fall einer Selbstbezichtigung oder für Mandatsträger mit politischem Hintergrund oder parallelen Aufsichtsratsmandaten.
Der Aufsichtsrat ist daher nicht nur gut beraten, eigene Maßnahmen bei möglichen Pflichtverletzungen des Vorstands sorgfältig zu dokumentieren, sondern auch zügig tätig zu werden und die Verjährungsfristen im Blick zu halten bzw. prüfen zu lassen. Andernfalls droht einzelnen Aufsichtsratsmitglieder selbst die Vollhaftung für durch die ursprüngliche Pflichtverletzung eines Vorstands verursachte Schäden, verbunden mit weiteren möglichen Konsequenzen für das eigene Amt. Vor diesem Hintergrund ist auch der Abschluss einer D&O-Versicherung durch die Gesellschaft, welcher für Aufsichtsratsmitglieder nicht verpflichtend ist, aber regelmäßig erfolgt, auch aus Sicht des Aufsichtsrats dringend geboten.