Werden Betriebsvereinbarungen gekündigt oder enden sie durch Fristablauf, stellt sich in der Praxis regelmäßig die Frage, inwiefern deren Regelungen über das Beendigungsdatum hinaus fortgelten. Klärungsbedürftig ist in diesen Fällen insbesondere, ob sie insgesamt oder teilweise nachwirken, sie als freiwillige Vereinbarungen ohne Fortgeltung enden oder die Nachwirkung wirksam ausgeschlossen wurde. Eine aktuelle Entscheidung des LAG Baden-Württemberg gibt Anlass, die Grundsätze der Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen zusammenzufassen und die Gestaltungsspielräume aufzuzeigen.
Gesetzliche Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen
In Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, gelten die Regelungen einer beendeten Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG unverändert weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Diese gesetzliche Nachwirkung gilt damit grundsätzlich nur in Angelegenheiten, die der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass bis zum Abschluss einer neuen Vereinbarung verbindliche Regelungen weiter gelten. Im Falle einer Arbeitszeitregelung wäre z.B. andernfalls unklar, wie nach Ablauf der Vereinbarung gearbeitet werden soll.
Bei sog. „gemischten“ Betriebsvereinbarungen mit teilweise erzwingbaren, teilweise freiwilligen Regelungen ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Sofern sich die jeweiligen Regelungsgegenstände sinnvoll voneinander abgrenzen lassen, wirken nur diejenigen Gegenstände nach, die der zwingenden Mitbestimmung unterfallen (BAG vom 26. August 2008 – 1 AZR 354/07). So kann der Arbeitgeber bei Vergütungsregelungen etwa den Dotierungsrahmen mitbestimmungsfrei festlegen und deshalb die Leistungen entsprechend ohne Nachwirkung einstellen. Ebenso kann er das zur Verfügung gestellte Finanzvolumen ohne Beteiligung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG verringern, sofern der Verteilungsplan nicht verändert wird. Will der Arbeitgeber aber mit der Kündigung der Betriebsvereinbarung eine Verringerung des Volumens bei gleichzeitiger Veränderung der Verteilungsgrundsätze erreichen, wirkt die Betriebsvereinbarung nach (so bereits BAG vom 26.10.1993 – 1 AZR 46/93).
Die Betriebsparteien können die gesetzliche Nachwirkung jedoch in der Betriebsvereinbarung ausschließen oder der Ausschluss sich aus der Natur des Regelungsgegenstandes ergeben, z.B. im Falle einer jahresbezogenen Weihnachtsgratifikation (BAG vom 17. Januar 1995 – 1 ABR 29/94) oder eines hinsichtlich einer konkreten Betriebsänderung geschlossenen Sozialplans (BAG vom 26. Mai 1992 – 10 ABR 63/91).
Nachwirkung freiwilliger Betriebsvereinbarungen
Ausdrücklich vereinbart werden muss hingegen die Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen, die freiwillige Regelungen betreffen, also nicht der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen. Andernfalls enden sie ersatzlos mit Beendigung der Vereinbarung.
In diesem Zusammenhang hat sich das LAG Baden-Württemberg jüngst mit einer Konstellation beschäftigt, die die Bedeutung solcher Vereinbarungen hervorhebt (Beschluss vom 20. Juli 2017 – 17 TaBV 2/17, Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt unter BAG 1 ABN 91/17). Hintergrund war die Kündigung einer Betriebsvereinbarung über Unterstützungsleistungen im Falle von Krankheit, Geburt und Tod und die Mitteilung der Arbeitgeberin, zukünftig keine weiteren Mittel mehr zur Verfügung zu stellen. Der Betriebsrat verlangte die Weitergewährung der Leistungen über den Beendigungszeitpunkt hinaus und berief sich auf eine ausdrückliche Regelung, wonach für den Fall der Kündigung “… die Nachwirkung bis zum Abschluss einer neuen Betriebsvereinbarung“ gilt.
Das LAG lehnte die Fortgeltung trotz der vereinbarten Nachwirkung ab. Es stellte fest, dass die Unterstützungsleistungen nicht der Zustimmung des Betriebsrats bedurften, weil der Arbeitgeber den Dotierungsrahmen einseitig festlegen und die Leistungen damit auch mitbestimmungsfrei einstellen durfte. Da die Betriebsparteien nicht ausdrücklich vereinbart hatten, dass die vertragliche Nachwirkung über das gesetzlich vorgesehene Maß hinausgehen solle, sei der Arbeitgeber nicht zur Weitergewährung der Leistungen verpflichtet.
Empfehlung: Gestaltungsspielräume bedarfsgerecht nutzen
Die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg macht die Bedeutung klarer Regelungen über die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen in der betrieblichen Praxis deutlich. Eine unbeabsichtigte Nachwirkung kann für Unternehmen erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben, wenn der Arbeitgeber ggf. bis zum Ergebnis einer Einigungsstelle über eine Nachfolgeregelung zur Fortführung der gekündigten Regelungen verpflichtet bleibt.
Umgekehrt kann die nachfolgelose Beendigung bedeutsamer Regelungen durch einen Ausschluss der Nachwirkung beträchtliche Nachteile verursachen, etwa im Bereich der Arbeitszeit oder der variablen Vergütung. Anzuraten ist deshalb, bei Verhandlung und Abschluss von Betriebsvereinbarungen die Frage der Nachwirkung stets ebenso sorgfältig zu behandeln wie die sonstigen Regelungen.
Hilfreich ist hierbei, eine laufende Projektübersicht über Gegenstand, Laufzeit und Nachwirkung bestehender Betriebsvereinbarungen vorzuhalten und eine Kündigung und Planung von notwendigen Nachfolgeregelungen rechtzeitig vorzubereiten. Zu einer solchen Nachfolgeregelung kann zum Beispiel auch eine über eine Einigungsstelle durchsetzbare Aufhebungsvereinbarung gehören, die die nachwirkenden Regelungen ersatzlos aufhebt.
Besonders empfehlenswert ist es nach unserer Erfahrung, Betriebsvereinbarungen mit klar formulierten Konfliktlösungsregelungen auszustatten. In diesen kann beispielsweise geregelt werden, dass im Falle einer Uneinigkeit über Nachfolgeregelungen innerhalb der Kündigungsfrist eine Einigungsstelle in einer bereits definierten Besetzung zusammentritt. Hierdurch werden zeitaufwändige Verfahren bis hin zur gerichtlichen Einsetzung einer Einigungsstelle vermieden.