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Kündigung, betriebsbedingt Schwerbehinderung

Unternehmerische Entscheidungsfreiheit schlägt Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer

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Schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen absoluten Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen aufgrund des Anspruchs auf behindertengerechte Beschäftigung? Dieser Vorstellung hat das BAG eine Absage erteilt und freien Unternehmerentscheidungen Vorrang gegenüber dem Beschäftigungsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer gewährt.

Das BAG (Urteil vom 16.5.2019) hat entschieden, dass sich kein absoluter Schutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer vor betriebsbedingtem Wegfall des Arbeitsplatzes aus dem Anspruch auf behindertengerechte Beschäftigung ableitet.

Schwerbehinderte Menschen haben es im Arbeitsleben oft nicht leicht eine Anstellung zu finden, die den Bedürfnissen der jeweiligen Schwerbehinderung gerecht wird. Arbeitgebern werden daher spezielle Pflichten auferlegt, angemessene Vorkehrungen zu treffen, die eine Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung gewährleisten sollen. Vor diesem Hintergrund steht einem schwerbehinderten Arbeitnehmer ein Anspruch auf behindertengerechte Beschäftigung zu (§ 164 Abs. 4 SGB IX). D.h. der Arbeitgeber muss eine Beschäftigung gewährleisten, bei der ein schwerbehinderter Arbeitnehmer seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln kann und z.B. den Arbeitsplatz entsprechend behindertengerecht gestalten.

Das BAG hatte sich nun mit der Frage auseinanderzusetzen, ob – und wenn ja – wie, sich der Beschäftigungsanspruch auf behindertengerechte Beschäftigung auf eine betriebsbedingte Kündigung auswirkt.

Worum ging es in dem Fall?

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer war seit 1982 in einer Stahlgießerei angestellt und führte dort einfache Hilfstätigkeiten in der Kernmacherei aus. Er hatte aufgrund Einschränkung seiner geistigen Erkenntnis- und Steuerungsmöglichkeiten einen Grad der Behinderung von 50. Zur Übernahme höherwertiger Tätigkeiten war er aufgrund seiner Behinderung nicht im Stande.

Aufgrund starken Umsatzrückgangs wurde im Jahr 2016 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet. Die Arbeitgeberin vereinbarte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich, der u.a. den Abbau von einer Stelle in der Kernmacherei vorsah.

Die Organisationsänderung sah die Übertragung der bisher von dem Arbeitnehmer ausgeführten Hilfsarbeiten auf die vier (höher qualifizierten) Kernmacher vor, die aufgrund der reduzierten Auftragslage hierfür Kapazitäten hatten. Bei der Arbeitgeberin gab es keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, die der Arbeitnehmer mit seiner Behinderung hätte ausüben können.

Der Arbeitnehmer vertrat die Auffassung, die Arbeitgeberin sei aufgrund des Anspruchs auf behindertengerechte Beschäftigung verpflichtet, ihre Organisationsänderung rückgängig zu machen oder für ihn einen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen.

Wie hat das BAG entschieden?

Das BAG hielt die Kündigung des Arbeitnehmers für rechtswirksam.

Dem Arbeitnehmer stand demnach aus dem Beschäftigungsanspruch kein Anspruch gegen die Arbeitgeberin darauf zu, die Organisationsänderung rückgängig zu machen. Zwar führe der Beschäftigungsanspruch aus § 164 Abs. 4 SGB IX zu einer Einschränkung der Organisationsfreiheit der Arbeitgeberin. Diese gelte allerdings nur im laufenden Arbeitsverhältnis bis zur Grenze der Zumutbarkeit. Sie sei hingegen gerade keine Beschäftigungsgarantie.

Auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer sind daher „nur“ die allgemeinen Maßstäben des KSchG anzuwenden: Sofern der bisherige Arbeitsplatz aufgrund Reorganisation wegfällt, und keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem bereits existierenden Arbeitsplatz besteht, hat die Arbeitgeberin nicht die Verpflichtung einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten oder einen anderen Arbeitsplatz „freizukündigen“.

Hinweise für die Praxis

Die unternehmerische Entscheidungsfreiheit, die Arbeit so umzuverteilen, wie es für das Unternehmen wirtschaftlich sinnvoll ist, wird nicht durch den Beschäftigungsanspruch des § 164 Abs. 4 SGB IX eingeschränkt. D.h. es gibt keinen absoluten Schutz vor einer betriebsbedingten Kündigung für schwerbehinderte Arbeitnehmer.

Die Entscheidung des BAG stellt jedoch auch keinen Freifahrtschein für Unternehmen dar. Denn die betriebsbedingte Kündigung soll gerade nicht die Möglichkeit eröffnen, missliebige Arbeitnehmer (insbesondere wegen der Schwerbehinderung) „einfach loszuwerden“.

Bei gerichtlicher Kontrolle der Organisationsentscheidung hat der Arbeitgeber die Durchführbarkeit und Nachhaltigkeit seiner Organisationsentscheidung darzulegen. Hierzu gehört insbesondere, dass die Organisationsentscheidung nicht zur überobligatorischen Belastung andere Arbeitnehmer führt. Vor Ausspruch der betriebsbedingten Kündigung sollten daher die Tragfähigkeit der Organisationsentscheidung und die Auswirkungen auf die übrigen Arbeitnehmer genau geprüft werden.

Darüber hinaus sind die Vorgaben des § 164 Abs. 4 SGB IX auch weiterhin im Rahmen der Prüfung der Kündigungsvoraussetzungen für die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten des schwerbehinderten Arbeitnehmers zu berücksichtigen.

Stichworte: betriebsbedingte Kündigung / Schwerbehinderung

Sandra Fredebeul

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Senior Associate
Sandra Fredebeul berät nationale und internationale Unternehmen vorwiegend in der Gestaltung von Anstellungs-, Aufhebungs- und Abwicklungsverträgen. Darüber hinaus konzentriert sie sich auf betriebsverfassungsrechtliche Fragen.
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