Der Tarifvertrag hat Vorrang und auf Ansprüche aus einem Tarifvertrag darf der Arbeitnehmer nicht verzichten. Das klingt nach einer einfachen Regelung, die jedoch einen weiten Anwendungsbereich hat und im Rahmen von Beendigungsstreitigkeiten leicht übersehen werden kann.
Versteckt in § 4 Abs. 4 TVG kann das Verbot des Verzichts oder der Abgeltung tarifvertragliche Ansprüche weitreichende Folgen haben. Demnach ist ein rechtswirksamer Verzicht auf bereits entstandene tarifliche Ansprüche im Zweifel unwirksam, d.h. Arbeitnehmer können nicht ohne weiteres wirksam darauf verzichten. Sinn und Zweck dieser Regelung ist die Sicherung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung von Tarifverträgen (sog. Tarifvorrang). Mit anderen Worten: Arbeitnehmer sollen auch davor geschützt sein, die Absicherung durch den Tarifvertrag auf Druck des Arbeitgebers etwa in Vergleichsverhandlungen aufzugeben.
Weiter Anwendungsbereich des Verzichtsverbots
Beachtet werden muss das Verzichtsverbot von tarifgebundenen Arbeitgebern bei Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich eines Tarifvertrages. Dies setzt eine beidseitige Tarifbindung voraus, was der Fall ist, wenn (1) der betroffene Mitarbeitende Mitglied der Gewerkschaft ist bzw. sein könnte oder (2) ein für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag vorliegt.
Die Unverzichtbarkeit gilt für alle denkbaren einzelvertraglichen Verzichtswege, und ist damit immer dann zu beachten, wenn Streitpunkte des (tariflichen) Arbeitsverhältnisses bereinigt werden sollen. Im Einzelnen erstreckt es sich nicht nur auf einseitige Verzichtserklärungen im Rahmen von Aufhebungsverträgen, Abwicklungsverträgen oder Prozessvergleichen, sondern auch auf Erlassverträge, negative Schuldanerkenntnisse, Klageverzichtserklärungen oder Ausgleichsquittungen.
Ein Betriebsübergang ist für das Verzichtsverbot ohne Bedeutung, sodass ein Verzicht auf einen bereits entstandenen tarifvertraglichen Anspruch auch dann unwirksam ist, falls dieser erst nach einem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer oder dem Betriebserwerber erklärt wird.
Tückisch ist insbesondere, dass eine Erledigungsklausel in einem Aufhebungsvertrag oder Vergleich entgegen ihrem Wortlaut tarifliche Ansprüche ebenfalls nicht erfasst. Dies gilt unabhängig davon, wie hoch eine etwa an den Arbeitnehmer zu zahlende Abfindung auch sein mag oder er eine anderweitige Entschädigungszahlung erhält.
Im Ergebnis bedeutet all dies, dass Arbeitnehmer nicht nur nicht wirksam auf tarifvertraglich geregelte Vergütungsansprüche oder sonstige Zahlungsansprüche verzichten können. Gleichermaßen Vorsicht geboten ist bei tariflich begründeten Freizeitausgleichsansprüchen sowie Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen.
Lösungsmöglichkeiten
Die gesetzlich vorgesehen Lösungsmöglichkeiten helfen in der Regel nicht weiter. So ist ein Verzicht auf entstandene tarifvertragliche Rechte nur in den seltenen Fällen gesetzlich zulässig, dass entweder im Tarifvertrag selbst eine Regelung enthalten ist, die einen Verzicht zulässt, oder die Tarifvertragsparteien dem Verzicht zugestimmt haben. Hierbei dürfte es sich jedoch um absolute Ausnahmefälle handeln, zumal die Gewerkschaft an einer individuellen Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der Regel nicht beteiligt wird und dies zumindest von Arbeitgeberseite im Zweifel weder für notwendig noch zweckmäßig erachtet wird.
Gesetzlich untersagt ist jedoch nur ein sog. Rechtsverzicht. Demnach verbleibt die Möglichkeit einer Einigung über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs (sog. Tatsachenvergleich). So können die Arbeitsvertragsparteien zumindest darüber frei entscheiden, welche Tatsachen sie zum Gegenstand der Verhandlungen um einen tariflichen Anspruch machen. So wäre zwar der direkte Verzicht auf tariflichen Zusatzurlaub nicht zulässig; dagegen wäre anlässlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Regelung möglich, dass darüber Einigkeit besteht, dass der Urlaub für einen bestimmten Zeitraum in Natur gewährt wurde. Bei Überstundenzuschlägen wäre eine Vereinbarung darüber möglich, dass der Mitarbeitender nur eine bestimmte (ggf. geringere) Anzahl an Überstunden geleistet hat.
In Rechtsstreitigkeiten über die Eingruppierung, d.h. die tarifvertragliche Zuordnung einer Vergütungsgruppe zu der auszuübenden Tätigkeit des Arbeitnehmers, kann die Vergütungsgruppe nicht Gegenstand eines Vergleichs sein. Dagegen wäre aber zumindest ein Vergleich darüber, dass bestimmte Voraussetzungen einer Vergütungsgruppe in einem gewissen Zeitraum vorlagen, denkbar.
Nur tarifvertragliche Ausschlussfristen greifen
Im Arbeitsvertrag geregelte Ausschlussfristen bzw. Verfallklauseln von in der Regel drei Monaten greifen nicht, da sie sich nicht auf tarifvertragliche Ansprüche erstrecken. Allerdings sind Ausschlussfristen, auch wenn diese üblicherweise mitunter länger als drei Monate sind, in Tarifverträgen verbreitet und in diesen Fällen explizit zulässig, sodass die betreffenden Ansprüche zumindest im Falle einer verspäteten Geltendmachung faktisch nicht mehr durchsetzbar wären.
Schließlich besteht zumindest die Möglichkeit des Arbeitgebers, mit tariflichen Ansprüchen des Arbeitnehmers aufzurechnen oder ist eine Abtretung tariflicher Rechte an Dritte durch den Arbeitnehmer zulässig, da der Arbeitnehmer zumindest in der Verwendung an sich bestehender tariflicher Ansprüche frei sein soll.
Fazit
Insbesondere Aufhebungsverträge oder gerichtliche Vergleiche mit tariflich Beschäftigen sind im Hinblick darauf sorgsam zu prüfen, ob darin sämtliche bis zum Beendigungszeitpunkt denkbaren tarifvertraglichen Ansprüche tatsächlich gewährt werden. Auf die Erledigungsklausel oder die Gewährung einer hohen Abfindungszahlung können sich Arbeitgeber auch insoweit nicht verlassen. Andernfalls besteht das Risiko verdeckter und mitunter teurer Doppelansprüche.