Vor allem, wenn es im Betrieb zu häufigen Kurzerkrankungen kommt, kann sich ein Arbeitgeber veranlasst sehen, gegenüber Arbeitnehmern die Anordnung auszusprechen, ab sofort bereits für den ersten Tag einer Erkrankung eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) vorlegen zu müssen. Besteht in diesem Fall ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats? Und was gilt für die elektronische AU-Bescheinigung?
Gesetzliche Grundlage
§ 5 Abs. 1 Satz 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) eröffnet dem Arbeitgeber zum einen das Recht, die Vorlage einer AU-Bescheinigung schon für die ersten drei Tage der Arbeitsunfähigkeit zu verlangen (Erweiterung der Nachweispflicht). Zum anderen ist er berechtigt, den ärztlichen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit auch für Arbeitsunfähigkeitszeiten zu verlangen, die nicht länger als drei Tage andauern, etwa nur für eine eintägige Arbeitsunfähigkeit (Verkürzung der Vorlagefrist). Für die elektronische AU-Bescheinigung gilt dies nach § 5 Abs. 1a S. 2 EFZG entsprechend, so dass Arbeitnehmer verpflichtet sind, das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer bereits zu dem vom Arbeitgeber festgelegten Zeitpunkt feststellen und sich eine ärztliche Bescheinigung aushändigen zu lassen.
Entscheidung des BAG
Mit der Frage, ob ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats besteht, wenn der Arbeitgeber ein entsprechendes Verlangen in Form einer Anordnung gegenüber mehreren Arbeitnehmern vornimmt, hatte sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) in seiner Entscheidung vom 15. November 2022 (Az.: 1 ABR 5/22) zu befassen.
Die Arbeitgeberin hatte seit dem Jahr 2018 insgesamt 17 Arbeitnehmern gleichlautende schriftliche Anordnungenmit dem Inhalt erteilt, dass ab Erhalt des Schreibens für den Arbeitnehmer die Verpflichtung bestehe, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest – vom ersten Fehltag an – der Personalabteilung vorzulegen.
Der Betriebsrat vertrat die Ansicht, bei dieser Angelegenheit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Mitbestimmung beim Ordnungsverhalten im Betrieb) innezuhaben, sodass entsprechende Anordnungen ohne die Zustimmung des Betriebsrats unwirksam und zu unterlassen seien. Es handele sich um eine Maßnahme mit kollektivem Bezug, die das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer betreffe.
Der Ansicht des Betriebsrats ist das BAG nicht gefolgt. Zwar betreffe das Verlangen des Nachweises der Arbeitsunfähigkeit in einer bestimmten Form und ggf. innerhalb einer bestimmten Frist zwar grundsätzlich das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer. Allerdings handle es sich in diesem Fall nicht um einen kollektiven Sachverhalt: Es stehe grundsätzlich im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers, im Einzelfall die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits vor dem vierten Tag der Erkrankung zu verlangen. Ein kollektiver Bezug sei nicht schon deshalb gegeben, weil die Anordnung gegenüber mehreren Arbeitnehmern gleichlautend und in einer gleichmäßigen Form erfolgt.
Nur wenn der Arbeitgeber eine (selbst gesetzte) Regel vollzieht – etwa indem er das Verlangen gleichermaßen gegenüber allen Arbeitnehmern, gegenüber einer Gruppe von ihnen oder zumindest immer dann geltend macht, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind –, gestaltet er nach der Entscheidung des BAG die betriebliche Ordnung in kollektiver Art und Weise.
Nach dem BAG könne aber im Übrigen insoweit nicht schon allein deshalb auf eine Regelhaftigkeit geschlossen werden, wenn die Anordnung gegenüber Arbeitnehmern mit „häufigen Kurzerkrankungen“ oder mit „hohen Fehlzeiten, darunter vielen Einzelfehltagen“ erteilt wird, solange nicht stets nach den gleichen Voraussetzungen – etwa einer bestimmten Anzahl von krankheitsbedingten Fehltagen – vorgegangen werde.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BAG ist zu begrüßen. Sie zeigt die Grenzen des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats beim Ordnungsverhalten auf und bietet insoweit eine Orientierungshilfe für die Praxis. Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber ein regelhaftes Vorgehen wählt. Es besteht kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, wenn der Anordnung kein regelhaftes Vorgehen zugrunde liegt. Mithin darf zum Beispiel nicht stets ein bestimmter Anlass zu der Aufforderung führen oder eine bestimmte Arbeitnehmergruppe betroffen sein.
Was bedeutet die Entscheidung für die elektronische AU-Bescheinigung?
Für die elektronische AU-Bescheinigung gilt im Ergebnis unseres Erachtens nichts anderes:
Für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer gilt, dass bspw. eine nicht auf einem regelhaften Vorgehen beruhende, gegenüber bestimmten Arbeitnehmern ausgesprochene Anordnung, sich eine ärztliche Bescheinigung bereits für den ersten Krankheitstag ausstellen zu lassen (welches elektronisch vom Arbeitgeber abgerufen werden kann), ohne Mitbestimmung des Betriebsrats erteilt werden kann.
Zu den häufig gestellten Fragen zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung finden sie hier unseren Beitrag vom 25. Januar 2023.