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Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns – Gefahr für betriebliche Vergütungssysteme?

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Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns führt dazu, dass Arbeitgeber einigen Arbeitnehmern mehr bezahlen müssen, als diesen aufgrund von betrieblichen Vergütungsregelungen zusteht. Das BAG entschied kürzlich, dass die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns aber nicht zu einer automatisierten dynamischen Anpassung von über dem Mindestlohn in Betriebsvereinbarungen festgelegten Entgelten führt und auch kein entsprechendes Mitbestimmungsrecht auslöst. Was das genau bedeutet, erklären wir in diesem Beitrag.  

Will der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer nach einem einheitlichen System vergüten, muss er den Betriebsrat bekanntlich in einigen Punkten einbeziehen. Mitbestimmt sind unter anderem die Abstände zwischen den Entgeltgruppen, denen die Arbeitnehmer/Positionen zugeteilt sind. Nach einer Erhöhung des Mindestlohns kann es passieren, dass in der entsprechenden Betriebsvereinbarung für eine oder mehrere Entgeltgruppen ein Entgelt unterhalb des erhöhten gesetzlichen Mindestlohns vorgesehen ist. Arbeitgeber müssen dann trotzdem den höheren gesetzlichen Mindestlohn bezahlen und gegen die Betriebsvereinbarung verstoßen. Dann stellt sich die Frage, ob dies wegen der mitbestimmten Abstände zwischen den Entgeltgruppen zu einer faktischen Verpflichtung zur Anpassung auch der über dem Mindestlohn liegenden Entgeltgruppen führt. Nein, sagt das BAG in seinem Beschluss vom 27.04.2021 (1 ABR 21/20).

Was war passiert?

Die nicht tarifgebundene Arbeitgeberin vereinbarte Anfang 2018 mit ihrem Betriebsrat eine Entgeltordnung. Diese Entgeltordnung sieht ein Entgeltgruppenschema vor. Innerhalb der Entgeltgruppen gibt es tätigkeitsdauerabhängige Stufen. Eine Anlage zu der Entgeltordnung enthielt dazu eine Vergütungstabelle, die in mehrere Entgeltgruppen unterteilt war. Die Entgeltgruppen waren wiederum in sechs Stufen unterteilt. Die Anlage legte zudem den Grundlohn und die entsprechenden Lohnabstände zwischen den Stufen und Gruppen fest. In der untersten Stufe lag der Grundlohn nach der Vergütungstabelle bei EUR 8,90 pro Stunde.

Ab dem 1. Januar 2019 wurde der gesetzliche Mindestlohn von EUR 8,84 auf EUR 9,19 erhöht. Die Arbeitgeberin zahlte daraufhin auch den Arbeitnehmern der untersten Stufe ein Entgelt in Höhe von EUR 9,19 pro Stunde. Der Betriebsrat war nun der Meinung, dass die höheren Stufen allesamt angehoben werden müssten, damit die vereinbarten Abstände wieder gewahrt würden. Er meinte, dass die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns durch die Arbeitgeberin ein Mitbestimmungsrecht auslöse. Die Arbeitgeberin wies die Forderungen des Betriebsrats zurück. Der Betriebsrat machte seine Forderungen daraufhin vor dem Arbeitsgericht Berlin geltend, welches seine Anträge zurückwies. Auch vor dem Landesarbeitsgericht hatte der Betriebsrat keinen Erfolg. Deshalb wandte er sich mit der Rechtsbeschwerde an das BAG.

BAG: Mindestlohnanhebung führt nicht zur Anpassung darüber liegender Entgelte

Das BAG wies die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats zurück. Der Mindestlohnanspruch sei „ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch tritt“. Die Arbeitgeberin sei nur auf Grundlage des gesetzlichen Anspruchs zur Zahlung des Mindestlohns verpflichtet. Der Betriebsrat könne deshalb keine automatische Anpassung der oberhalb des Mindestlohns liegenden Entgelte verlangen.

Auch löse die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns kein Mitbestimmungsrecht aus. Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG zu Fragen der betrieblichen Lohngestaltung bezwecke „eine gleichberechtigte Teilhabe der Arbeitnehmer an Entscheidungen des Arbeitgebers, die ihre Vergütung betreffen“. Fehle es an einer solchen Entscheidung – wie etwa bei einer Lohnerhöhung wegen des gesetzlichen Mindestlohns – „besteht kein Raum für eine Mitbestimmung des Betriebsrates“.

Praxishinweise

Die Entscheidung des BAG ist zu begrüßen. Arbeitgeber müssen sich an gesetzliche Vorgaben zur Entgelthöhe halten dürfen, ohne deshalb ganze Vergütungssysteme anpassen oder nachverhandeln zu müssen. Die vergangenen Entscheidungen der Mindestlohnkommission geben Grund zu der Annahme, dass der gesetzliche Mindestlohn auch künftig weiter steigt. Zum 1. Juli 2022 wird der gesetzliche Mindestlohn schrittweise auf EUR 10,45 pro Stunde angehoben. Zur Auszahlung dieses gesetzlichen Mindestlohns sind Arbeitgeber verpflichtet – aber eben auch nur dazu und nicht zu einer Anpassung oberhalb der Mindestlohngrenze. Vorsicht ist aber geboten, wenn eine Betriebsvereinbarung auf den gesetzlichen Mindestlohn als Untergrenze Bezug nimmt. In einem solchen Fall dynamischer Bezugnahme kommt es auf die Formulierung im Einzelfall an.

Levke Christine Jost

Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht
Associate
Levke Christine Jost berät nationale und internationale Unternehmen in sämtlichen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Ihr Schwerpunkt liegt dabei im Betriebsverfassungsrecht, der Führung von Kündigungsrechtsstreitigkeiten sowie der Vertragsgestaltung. Sie ist Mitglied der Fokusgruppe "Unternehmensmitbestimmung".
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