Mit unserem Blog-Beitrag vom 18. Januar 2017 hatten wir über die Neuerungen im Recht der Schwerbehindertenvertretung berichtet. Seit dem 30. Dezember 2016 ist jede Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam. Von einem Leser wurde die Frage aufgeworfen, ob die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vor dem Zustimmungsantrag beim Integrationsamt erfolgen muss. Wir hatten bereits Anfang 2017 die Auffassung vertreten, dass die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nur rechtsicher ist, wenn sie vor dem Zustimmungsantrag beim Integrationsamt durchgeführt wird. Diese Auffassung wurde nunmehr durch das Arbeitsgericht Hagen in seiner Entscheidung vom 6. März 2018 (5 Ca 1902/17) bestätigt.
Der Fall
Die mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehinderte Klägerin war als kaufmännische Mitarbeiterin in der Abteilung „Verkauf“ bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten tätig. Mit Wirkung zum 1. August 2017 beabsichtigte die Beklagte die Einführung des ERP-Systems SAP, welches neue Geschäftsprozesse und diese wiederum eine neue Aufbauorganisation erforderlich machten. Hierfür schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan ab. Wie im Interessenausgleich und Sozialplan vorgesehen, bot die Beklagte der Klägerin eine Ergänzungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag an, welche ab dem 1. August 2017 die Versetzung der Klägerin in die Abteilung „Auftragszentrum/Auftragssteuerung“ vorsah. Dieses Angebot lehnte die Klägerin allerdings ab. Daraufhin beantragte die Beklagte mit Schreiben vom 27. Juni 2017 beim zuständigen Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Änderungskündigung der Klägerin aus betriebsbedingten Gründen und der Unterbreitung des Angebots, das Arbeitsverhältnis in der Abteilung „Auftragssteuerung“ mit den aufgelisteten Tätigkeiten und zunächst der bisherigen Vergütung fortzusetzen. Mit Schreiben vom 29. Juni 2017 informierte die Beklagte den Betriebsrat über die beabsichtigte Änderungskündigung und bat um schriftliche Stellungnahme innerhalb der Wochenfrist. Ebenfalls am 29. Juni 2017 wurde dem stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden ein inhaltlich identisches Schreiben zur Weitergabe an die Schwerbehindertenvertretung überreicht. Das Integrationsamt erteilte mit Bescheid vom 22. September 2017 die Zustimmung zur Änderungskündigung mit der Maßgabe, dass die Klägerin in der Abteilung „Auftragssteuerung“ mit den im Antrag beschriebenen Aufgaben bei ansonsten unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt wird. Daraufhin sprach die Beklagte am 16. Oktober 2017 die ordentliche Änderungskündigung mit Wirkung zum 31. Dezember 2017 aus und bot der Klägerin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ab dem 1. Januar 2018 als kaufmännische Mitarbeiterin in der Abteilung „Auftragszentrum/Auftragssteuerung“ an. Die Klägerin nahm das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt, dass dieses nicht sozial ungerechtfertigt ist, an und erhob am 3. November 2017 Klage gegen die Änderungskündigung beim zuständigen Arbeitsgericht Hagen.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Hagen
Das Arbeitsgericht Hagen entschied, dass dem Änderungsschutzantrag der Klägerin stattzugeben war. Dabei ließ es offen, ob die streitgegenständliche Änderungskündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt war, ob der Zustimmungsbescheid des Integrationsamts zu beanstanden war und ob die Anhörung des Betriebsrats ordnungsgemäß durchgeführt worden war. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Hagen folgte die Unwirksamkeit der Änderungskündigung bereits aus § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 gültigen Fassung (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX).
Nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören; er hat ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen. Seit dem 30. Dezember 2016 wurde als zusätzliches Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung in § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) statuiert, wonach die Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach Satz 1 ausspricht, unwirksam ist.
Explizit führte das Arbeitsgericht Hagen aus, dass die Unwirksamkeitsfolge der Kündigung auch bei einer fehlerhaften Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung eintritt, da in diesem Fall ebenfalls keine Beteiligung nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. vorliege.
Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung bei allen Kündigungen
Zunächst stellte das Arbeitsgericht Hagen klar, dass die Pflicht des Arbeitgebers zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung bei allen Kündigungen und damit auch bei Änderungskündigungen schwerbehinderter oder gleichgestellter Arbeitnehmer besteht. Die Pflicht bestehe auch unabhängig davon, dass das Integrationsamt nach § 87 Abs. 2 SGB IX a.F. (jetzt: § 170 Abs. 2 SGB IX) eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung einzuholen hat, da eine Stellungnahme die Anhörung im behördlichen Zustimmungsverfahren nicht ersetze.
Unverzügliche Unterrichtung im Sinne des § 121 Abs. 1 BGB
Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung nach Auffassung des Arbeitsgerichts Hagen nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) beteiligt. Denn die Beklagte hatte zunächst mit Schreiben vom 27. Juni 2017 beim Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Änderungskündigung der Klägerin beantragt und erst danach mit Schreiben vom 29. Juni 2017 die Schwerbehindertenvertretung angehört sowie um Stellungnahme gebeten. Nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) muss die Unterrichtung aber „unverzüglich und umfassend“ erfolgen. Unverzüglich bedeutet nach § 121 Abs. 1 BGB, dass der Arbeitgeber, die Schwerbehindertenvertretung ohne schuldhaftes Zögern anhören muss, sobald er seinen Kündigungswillen gebildet hat. Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung muss daher nach Ansicht des Arbeitsgerichts Hagen am Beginn der vom Arbeitgeber zu treffenden Maßnahmen stehen. Erst danach darf die Zustimmung des Integrationsamts beantragt werden. Dies ergibt sich nach Auffassung des Arbeitsgerichts Hagen unmittelbar aus dem Wortlaut des § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und wird durch dessen Zweck, der Schwerbehindertenvertretung eine Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers zu ermöglichen, untermauert. Ist nämlich der Antrag auf Zustimmung schon gestellt, hat der Arbeitgeber seine Willensbildung bereits abgeschlossen und seinen Willen nach außen erkennbar manifestiert. In diesem Fall kann die Schwerbehindertenvertretung nicht mehr an der Willensbildung mitwirken, sondern nur noch darauf hinwirken, dass der Arbeitgeber seine bereits getroffene Entscheidung revidiert. Anders als § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, der lediglich eine Anhörung „vor jeder Kündigung“ verlangt, stellt § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) also auf einen früheren Zeitpunkt ab.
Keine Heilung durch nachträgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung
Schließlich führte das Arbeitsgericht Hagen aus, dass auch die nachträgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht zu einer Heilung der zuerst unterbliebenen bzw. fehlerhaften Beteiligung führt. Denn wäre eine nachträgliche Beteiligung im Rahmen des § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) möglich, bliebe diese Neuerung weitestgehend ohne Folgen. Hierdurch sollten aber gerade die Rechte der Schwerbehindertenvertretung gestärkt und deren Beteiligung gesichert werden. Zudem nimmt § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) nur auf Satz 1 Bezug und nicht auf den eine nachträgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung regelnden § 95 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a.F. (jetzt § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX). Jedenfalls würde der Zweck des Unterrichtungs- und Anhörungsrechts, der Schwerbehindertenvertretung eine Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers zu ermöglichen, bei einer nachträglichen Beteiligung konterkariert. Die Anhörung kann daher nicht nachgeholt werden. Wenn die Kündigungsentscheidung ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung getroffen und der Zustimmungsantrag bereits gestellt wurde, bleibt dem Arbeitgeber nur die Möglichkeit, den Antrag zurückzunehmen und nach ordnungsgemäßer Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung einen neuen Antrag zu stellen.
Fazit
Festzuhalten ist damit, dass die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung vor der Antragstellung beim Integrationsamt durchzuführen ist. Andernfalls ist die Kündigung unwirksam. Dies hat jedenfalls das Arbeitsgericht Hagen nunmehr mit Urteil vom 6. März 2018 (5 Ca 1902/17) entschieden.
Im Hinblick auf die Anhörung des Betriebsrats wird zum Teil vertreten, dass die Schwerbehindertenvertretung und der Betriebsrat in beliebiger Reihenfolge angehört werden können, solange sichergestellt ist, dass die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung vor dem Zustimmungsantrag beim Integrationsamt erfolgt (vgl. etwa Bayreuther, NZA 2017, 87 (90)). Nach anderer, vorzugswürdiger Auffassung sollte bis zu einer höchstrichterlichen Klärung die Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung spätestens parallel zur Anhörung des Betriebsrats durchgeführt werden, da die Mitteilung der Kündigung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX „unverzüglich“ zu erfolgen hat.