Häufig treten nach Ausspruch einer verhaltensbedingten außerordentlichen fristlosen Kündigung weitere kündigungsrelevante Sachverhalte zu Tage, von deren Existenz der Arbeitsgeber bislang keine Kenntnis hatte. Diese kommen dem Arbeitgeber beispielsweise dann gelegen, wenn der bisherige Kündigungssachverhalt nach erster Einschätzung des Arbeitsgerichts in der Güteverhandlung nicht ausreichend ist. Arbeitgeber stehen dann vor der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die neuen Gründe im bereits eingeleiteten Kündigungsschutzverfahren nachgeschoben werden können.
Vorliegen weiterer Kündigungsgründe im Kündigungszeitpunkt
Ein „Nachschieben“ weiterer Kündigungsgründe zur Rechtfertigung einer bereits ausgesprochenen Kündigung ist grundsätzlich zulässig. Der weitere Kündigungsgrund muss allerdings im Zeitpunkt der Kündigung bereits objektiv vorgelegen haben. Ist er erst danach entstanden, kann er eine bereits ausgesprochene Kündigung nicht mehr rechtfertigen. Denn die Wirksamkeit einer Kündigung beurteilt sich nach dem Zeitpunkt ihres Zugangs. Solche gänzlich neue Sachverhalte können allerdings einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG nach sich ziehen oder ggf. eine weitere Kündigung rechtfertigen. Außerdem können nachträglich eingetretene Umstände nach der Rechtsprechung des BAG für die gerichtliche Beurteilung insoweit von Bedeutung sein, wie sie die Vorgänge, die zur Kündigung geführt haben, zusätzlich erhellen. Dazu müssen zwischen den neuen Vorgängen und den alten Gründen so enge innere Beziehungen bestehen, dass jene nicht außer Acht gelassen werden können, ohne dass ein einheitlicher Lebensvorgang zerrissen würde. Es darf aber nicht etwa eine ursprünglich unbegründete Kündigung durch die Berücksichtigung späteren Verhaltens rückwirkend zu einer begründeten werden.
Kenntniserlangung nach Kündigungszugang
Außerdem darf der Arbeitgeber erst nach Zugang der Kündigung Kenntnis von den weiteren Kündigungsgründen erhalten haben, um diese neuen Gründe zur Rechtfertigung der bereits ausgesprochenen Kündigung im Rechtsstreit „nachzuschieben“. Beschränkungen ergeben sich in mitbestimmten Betrieben aus § 102 BetrVG und bei außerordentlichen Kündigungen aus der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB.
Umstände, die dem Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung bereits bekannt waren, aber dem Betriebsrat nicht mitgeteilt wurden, können nicht nachgeschoben werden. Das gilt selbst dann, wenn der Betriebsrat der bereits ausgesprochenen Kündigung zugestimmt hatte. Denn dem Betriebsrat soll Gelegenheit gegeben werden, vor Erklärung der Kündigung auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers im Hinblick auf die ihm bekannten und deshalb seine Absicht beeinflussenden Umstände einzuwirken. Dem widerspricht es, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat bereits bekannte Kündigungsgründe vorenthält, diese dann aber im Rechtsstreit zur zusätzlichen Begründung „nachschieben“ will. Insoweit kann der Arbeitgeber den Betriebsrat auch nicht nachträglich wirksam beteiligen. Ihm bleibt bei „verfrühter“ Kenntnis nur noch die Möglichkeit, eine erneute Kündigung auszusprechen.
Kündigungsgründe, die dem Arbeitgeber allerdings bereits länger als zwei Wochen vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung bekannt waren, „verfallen“ angesichts der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB. Die Zwei-Wochen-Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt.
Beteiligung des Betriebsrats
In mitbestimmten Betrieben ist also ein „Nachschieben“ von Kündigungsgründen, die dem Arbeitgeber im Nachhinein bekannt wurden, zulässig, wenn der Betriebsrat zu den neuen Gründen angehört wurde. Die erneute Beteiligung des Betriebsrats hat in analoger Anwendung von § 102 BetrVG zu erfolgen. Der Betriebsrat kann zwar die bereits ausgesprochene Kündigung nicht mehr verhindern. Er kann dem Arbeitgeber aber seine Sicht der Dinge zu den neu bekanntgewordenen Gründen darlegen.
Keine erneute Anhörung bei Verdachtskündigungen
Es bedarf keiner erneuten Anhörung des Mitarbeiters, wenn der Arbeitgeber nach Ausspruch einer Verdachtskündigung neue Umstände in den Rechtsstreit einführt, die den Verdacht einer weiteren Pflichtverletzung begründen. Der Arbeitnehmer kann sich im Rechtsstreit gegen den neu aufgetretenen Tatverdacht zur Wehr setzen.
Kein sachlicher oder zeitlicher Zusammenhang erforderlich
Ein sachlicher oder zeitlicher Zusammenhang zwischen den schon bekannten Kündigungsgründen und dem nachgeschobenen Kündigungsgrund ist ebenfalls nicht erforderlich. Die Wirksamkeit einer bereits ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung hängt alleine davon ab, ob der bei ihrem Ausspruch tatsächlich vorliegende Sachverhalt bei objektiver Würdigung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht.
Keine Geltung der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB
Neu bekannt gewordene, bei Kündigungsausspruch objektiv aber bereits gegebene Gründe können noch nach Ablauf der Zweiwochenfrist in den Prozess eingeführt werden. § 626 Abs. 2 BGB findet auf nach Ausspruch der Kündigung bekannt gewordene Gründe weder unmittelbare noch entsprechend Anwendung.
Prozessrechtliche Spielregeln
Arbeitgeber, die neu bekannt gewordenen Kündigungsgründe materiell-rechtlich im Kündigungsschutzverfahren nachschieben wollen, müssen jedoch die prozessrechtlichen Spielregeln im Blick behalten. Hier sind insbesondere die Regelungen über die Zurückweisung verspäteten Vorbringens (§§ 61a und 67 ArbGG) und die Vorschriften zu einer eventuellen Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlungen zu nennen. Die neuen Gründe sollten deshalb zeitnah nach der Kenntniserlangung und möglichst in erster Instanz nachgeschoben werden.