Innerhalb der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses besteht auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen kein besonderer Kündigungsschutz. An eine Kündigung innerhalb dieser Zeit sind damit grundsätzlich keine besonderen Anforderungen geknüpft. Das könnte sich jetzt ändern: In einer aktuellen Entscheidung zur Kündigung eines Gleisarbeiters hat der EuGH (Urt. v. 10.02.2022 in der Rechtssache C-485/20 HR Rail) festgestellt, dass die Kündigung von Arbeitnehmer:innen mit Schwerbehinderung auch während der „Probezeit“ nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist.
Nach aktueller deutscher Gesetzeslage, nämlich gemäß § 173 Abs. 1 S. 1 SGB IX, greifen die §§ 168 ff. SGB IX und damit der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nicht vor Ablauf der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf mithin auch erst nach den ersten sechs Monaten der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Zudem greift der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz gem. § 1 Abs. 1 KSchG ebenfalls erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten.
Allerdings, so nun der EuGH, könnten schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen auch bereits in der „Probezeit“ bzw. „Wartezeit“ einen Anspruch darauf haben, dass ihnen – vor Ausspruch einer Kündigung – vorranging ein anderer, geeigneter Arbeitsplatz zugewiesen wird. Das Urteil könnte dazu führen, dass Arbeitgeber:innen künftig schon bei einer Probezeitkündigung von Arbeitnehmer:innen mit Schwerbehinderung prüfen müssen, ob eine Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz möglich ist.
Der zugrundeliegende Sachverhalt im Ausgangsverfahren
Die Entscheidung des EuGH erging im Rahmen eines Rechtsstreits in Belgien zwischen der HR Rail SA, der einzigen Arbeitgeberin der Bediensteten der belgischen Eisenbahn, und einem von ihr zunächst als Gleisarbeiter eingestellten Arbeitnehmer. Während der Probezeit wurde bei ihm eine Herzerkrankung diagnostiziert, ihm wurde eine Schwerbehinderung attestiert, und er erhielt einen Herzschrittmacher. Dieser reagierte jedoch sensibel auf elektromagnetische Felder, wie sie in Gleisanlagen typischerweise vorkommen, so dass der Arbeitnehmer fortan nicht mehr in seiner Funktion tätig werden konnte.
HR Rail setzte ihn zunächst als Lagerist ein. Sodann wurde er jedoch noch während des Laufs seiner Probezeit entlassen. Begründet wurde die Kündigung damit, dass es dem Arbeitnehmer endgültig unmöglich sei, seine arbeitsvertraglichen Aufgaben zu erfüllen. Aufgrund des Umstandes, dass er sich noch in der Probezeit befinde, sei ihm auch kein Einsatz auf einem anderen Arbeitsplatz anzubieten.
Dem begegnete der Arbeitnehmer mit einer Klage und machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. Seine Kündigung widerspreche der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG), die die Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis untersage. Art. 5 der Richtlinie sieht insbesondere vor, dass der Arbeitgeber „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen“ treffen muss. Nach Meinung des Arbeitnehmers gehört dazu auch die Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz.
Die vom EuGH zu entscheidende Vorlagefrage
Das belgische Gericht befragte daraufhin den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zur Auslegung des Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG, insbesondere hinsichtlich des Begriffs „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“. Die Frage war letztlich, ob Arbeitgeber:innen in einem Fall wie dem vorliegenden verpflichtet sind, dem oder der Arbeitnehmer:in einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen, anstatt ihm oder ihr zu kündigen.
Die Entscheidung des EuGH
Nach Ansicht des EuGH impliziert der Begriff „angemessene Vorkehrungen“, dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.
Die Richtlinie 2000/78/EG sei, so der EuGH, in ihrem Anwendungsbereich weit genug, um auch bereits für die Probezeit zu gelten. Arbeitgeber:innen müssten die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um behinderten Menschen den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, sofern sie sie nicht unverhältnismäßig belasten.
Die im 20. Erwägungsgrund der Richtlinie aufgezählten wirksamen und praktikablen Maßnahmen umfassten, so der EuGH weiter, z. B. die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz. Das gelte für öffentliche und private Bereiche, einschließlich öffentlicher Stellen. Mit Blick auf Erwägungsgrund 21 der Richtlinie schränkte der EuGH die Verpflichtung zum Ergreifen solcher Maßnahmen jedoch dahingehend ein, dass sie den Arbeitgeber nicht „unverhältnismäßig belasten“ dürfen.
Praktische Bedeutung
Das Urteil des EuGH stellt die deutsche Gesetzessystematik auf den Kopf. Der Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen sowie auch der allgemeine Kündigungsschutz nach dem KSchG greifen nach deutschem Recht erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten ein, auch vor dem sozialpolitischen Hintergrund, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden soll. Nun aber müssen sich Arbeitgeber:innen, die einen schwerbehinderten Menschen einstellen, bereits in den ersten Monaten des Arbeitsverhältnisses fragen, ob mildere Maßnahmen als eine Kündigung in Betracht kommen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz im Vergleich zu einer Kündigung eine „unverhältnismäßige Belastung“ sein wird. Der EuGH verweist hierzu nur pauschal darauf, dass insbesondere der finanzielle Aufwand der Maßnahme sowie die Größe, finanzielle Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation bzw. des Unternehmens zu berücksichtigen sind.
Abgesehen von den arbeitsrechtlichen Folgen stellt sich die Frage, ob die Entscheidung tatsächlich ein Fortschritt in Richtung Gleichstellung ist. Ohne Zweifel erhöht der EuGH zwar das Kündigungsschutzniveau für Beschäftigte mit Behinderung. Zu befürchten ist jedoch, dass Arbeitgeber:innen aufgrund der erhöhten Anforderungen an eine wirksame Probezeitkündigung zukünftig Bedenken gegen eine unbefristete Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung haben werden. Mit Blick auf das Risiko einer Diskriminierung, ist eine solche Herangehensweise jedoch nicht ratsam.
In Zusammenarbeit mit Jana Schön, Wiss. Mit. im Berliner Büro.