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Verhandelte Unternehmens­mitbestimmung – Nur der Wechsel ist beständig

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Das Recht der verhandelten Unternehmensmitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ist in Bewegung. Auf eine Vorlage des BAG hin hat der EuGH Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat im Fall einer SE-Gründung im Wege der formwechselnden Umwandlung als geschützten Besitzstand gewertet (sehen Sie hierzu unseren Blog-Beitrag vom 30. November 2022). In seinem hierauf folgenden Schlussbeschluss (23.3.2023 – 1 ABR 43/18) hat das BAG eine Beteiligungsvereinbarung, welche keine Gewerkschaftssitze vorsah, insoweit für unwirksam erklärt. Einen Rückgriff auf die gesetzliche Auffanglösung (§§ 34 ff. SEBG) schloss das BAG wegen des Vorrangs der Verhandlungsautonomie aus. Was gilt also, wenn sich die Umstände in einer SE oder SE-Unternehmensgruppe ändern? Im Idealfall gibt die Beteiligungsvereinbarung selbst die Antwort.

Szenario 1: Herauswandern einer Gesellschaft oder eines Betriebs aus dem Geltungsbereich der Beteiligungsvereinbarung

Der Geltungsbereich einer SE-Beteiligungsvereinbarung gehört zum Mindestinhalt einer solchen Vereinbarung (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). Die Folgen, wenn bspw. ein Unternehmen oder ein Betrieb aus der SE-Unternehmensgruppe „herauswandert“, werden in der Praxis jedoch regelmäßig nicht bis ins letzte Detail bedacht.

Ist der Geltungsbereich der Beteiligungsvereinbarung nicht ausdrücklich definiert, ist im Wege der Auslegung davon auszugehen, dass die Vereinbarung nach dem Parteiwillen ausschließlich Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer der SE und etwaiger Tochtergesellschaften regeln soll, die in den Mitgliedstaaten der EU sowie den übrigen Vertragsstaaten des EWR-Abkommens tätig sind (vgl. § 3 Abs. 2 SEBG). Dies lässt sich u.a. damit begründen, dass der SE-Betriebsrat nach der Legaldefinition in § 2 Abs. 7 SEBG grundsätzlich (nur) die Rechte auf Unterrichtung und Anhörung „der Arbeitnehmer der SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe“ wahrnimmt. Gleichzeitig erlaubt das Gesetz eine Ausdehnung des Geltungsbereichs über EWR-Staaten hinaus, was sich aber aus der Beteiligungsvereinbarung selbst ergeben muss (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). In Ermangelung einer solchen Regelung ist der vom SEBG vorgesehene übliche Geltungsbereich zugrunde zu legen.

Fällt ein Unternehmen oder ein Betrieb aus diesem Geltungsbereich heraus, findet die Beteiligungsvereinbarung auf die Arbeitnehmer dieser Einheit keine Anwendung mehr. Eine Fortgeltung / Nachwirkung ist weder gesetzlich vorgesehen noch angezeigt, weil die betroffenen Arbeitnehmer nicht mehr von Entscheidungen der SE-Leitung berührt werden. Soweit die betroffenen Arbeitnehmer Mandate im SE-Betriebsrat oder SE-Aufsichtsrat bekleideten, müssen sie aus diesen Gremien ausscheiden, denn es wäre nicht sachgerecht, wenn sie als Unbeteiligte weiterhin die Geschicke der SE und ihrer Tochtergesellschaft mitlenkten.

Auf die zurückbleibende SE oder SE-Unternehmensgruppe wirkt sich das Herauswandern eines Teils der Belegschaft in der Weise aus, dass möglicherweise Neuwahlen zur Nachbesetzung im SE-Betriebsrat oder im SE-Aufsichtsrat durchzuführen sind, wenn bspw. die Belegschaften einzelner Staaten nicht mehr vertreten sind.

Praxishinweis: Beteiligungsvereinbarungen sollten möglichst dynamisch ausgestaltet werden und eine unmittelbare oder wenigstens regelmäßige Anpassungsmöglichkeit an geänderte Umstände und ein möglichst unkompliziertes Verfahren für Nachwahlen in den SE-Betriebsrat oder Aufsichtsrat vorsehen.

Szenario 2: Verschmelzung zweier nationaler SEs mit unterschiedlichen Beteiligungsvereinbarungen

Werden zwei nationale SEs verschmolzen (in Betracht kommt jedenfalls eine Verschmelzung zur Aufnahme), treffen regelmäßig zwei Beteiligungsvereinbarungen und zwei SE-Betriebsräte aufeinander, und es gilt die Frage zu beantworten, ob zwei Beteiligungssysteme nebeneinander zur Anwendung kommen oder sich eines gegenüber dem anderen durchsetzt.

Grundsätzlich gehen die Rechte und Pflichten des übertragenden Rechtsträgers einer Verschmelzung im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf den aufnehmenden Rechtsträger über (§ 20 UmwG). Betriebsvereinbarungen und Firmen-Tarifverträge des übertragenden Rechtsträgers gelten daher im aufnehmenden Rechtsträger grundsätzlich fort. Dieser Grundsatz gilt jedoch dann nicht, wenn der Regelungsinhalt einer Kollektivvereinbarung zwingend die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Unternehmen voraussetzt. Dies spricht dafür, dass jedenfalls diejenigen Regelungen der Beteiligungsvereinbarung der übertragenden SE, welche die Unternehmensmitbestimmung regeln und bzgl. der Größe des Aufsichtsrats an die Satzung der SE anknüpfen, nicht in der aufnehmenden SE fortgelten können. Darüber hinaus sind Organe (z. B. Vorstand und Aufsichtsrat) an die Existenz des Rechtsträgers gekoppelt – mit dessen Erlöschen endet daher auch die Organstellung.

Was gilt für den SE-Betriebsrat des übertragenden Rechtsträgers? Konzern- oder Gesamtbetriebsräte von übertragenden Rechtsträgern einer Verschmelzung erlöschen in der Regel – dies spricht dafür, dass auch der SE-Betriebsrat des übertragenden Rechtsträgers nicht fortbesteht, wenn in der aufnehmenden SE bereits ein SE-Betriebsrat besteht (bei einer operativen Gesellschaft mit Arbeitnehmern regelmäßig der Fall).

Vor einer Minderung von Beteiligungsrechten im Aufsichtsrat oder SE-Betriebsrat der SE sind die Arbeitnehmer der übertragenden SE aufgrund der Neuverhandlungspflicht der Beteiligungsvereinbarung bei strukturellen Änderungen, welche zur Minderung von Beteiligungsrechten im Aufsichtsrat oder SE-Betriebsrat der SE geeignet sind (§ 18 Abs. 3 SEBG), geschützt.

Szenario 3: Innerstaatliche Spaltung einer SE

Wird ein Unternehmensteil von einer SE innerstaatlich abgespalten, führt dies in der Regel nicht zu einer Minderung von Beteiligungsrechten, so dass die Beteiligungsvereinbarung trotz Vorliegens einer strukturellen Änderung nicht gemäß § 18 Abs. 3 SEBG neu zu verhandeln ist. Die aus der SE „herauswandernden“ Arbeitnehmer sind bei der Frage, ob Beteiligungsrechte reduziert werden, außer Betracht zu lassen, denn eine geänderte SE-Beteiligungsvereinbarung würde ihnen als „außenstehenden“ Arbeitnehmern nichts nützen.

Praxishinweis: Eine umsichtig gestaltete Beteiligungsvereinbarung sollte die Möglichkeit, dass neue Arbeitnehmer zur SE hinzustoßen, jedoch bedenken und – entsprechend § 21 Abs. 1 Nr. 2 SEBG – eine flexible Anpassungsmöglichkeit bzgl. SE-Betriebsrat und einer etwaigen Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat ebenso wie ein effizientes Wahlverfahren beinhalten.

Nimmt eine innerstaatliche SE im Wege einer Spaltung durch Aufnahme einen Unternehmensteil eines anderen Unternehmens auf, ist diese Konstellation mit einer Verschmelzung durch Aufnahme (oben Szenario 2) zu vergleichen. Die Spaltung ist in jedem Fall als strukturelle Änderung der SE zu betrachten und löst – sofern eine Minderung von Beteiligungsrechten der neu hinzukommenden Arbeitnehmer möglich ist – eine Pflicht zur Neuverhandlung der Beteiligungsvereinbarung gemäß § 18 Abs. 3 SEBG aus.

Eine Neuverhandlungspflicht dürfte auch dann bestehen, wenn die Beteiligungsrechte in einem etwaigen Europäischen Betriebsrat des übertragenden Rechtsträgers großzügiger geregelt waren als im SE-Betriebsrat der SE.

Praxishinweis: Damit eine Beteiligungsvereinbarung nicht schon wegen weitergehender Unterrichtungs- und Anhörungsrechte eines Europäischen Betriebsrats des übertragenden Rechtsträgers neu verhandelt werden muss, bietet es sich an, in der SE-Beteiligungsvereinbarung für diesen Fall eine automatische Anpassung der Rechte im SE-Betriebsrat an das höhere Niveau vorzusehen.

Szenario 4: Kündigung einer Beteiligungsvereinbarung

Während die Auswirkungen wesentlicher Änderungen, die Laufzeit der Beteiligungsvereinbarung und Fälle, die Neuverhandlungen der Beteiligungsvereinbarung auslösen, zum gesetzlichen Mindestinhalt einer Beteiligungsvereinbarung gehören (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 und 6 SEBG), gilt dies nicht für ein etwaiges Kündigungsrecht der Parteien der Beteiligungsvereinbarung. Mit Blick auf die durch die vorgenannten Regelungsgegenstände gewährleistete Flexibilität und die Neuverhandlungspflicht bei bestimmten strukturellen Änderungen (§ 18 Abs. 3 SEBG) ist ein zwingendes Kündigungsrecht unnötig. Ist ein Kündigungsrecht in der Beteiligungsvereinbarung nicht ausdrücklich geregelt, spricht daher mehr dafür, dass es ein solches auch nicht gibt und sich die Parteien bei Bedarf der übrigen Anpassungsmechanismen bedienen müssen. Auch für ein Recht zur außerordentlichen fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund dürfte kein Bedürfnis bestehen.

Praxishinweis: Höchstrichterlich entschieden ist die Frage nach einem Kündigungsrecht jedoch nicht. Es empfiehlt sich daher, eine Lösungsmöglichkeit – und das im Anschluss geltende Beteiligungsregime – in der Beteiligungsvereinbarung eindeutig zu regeln.

Sieht die Beteiligungsvereinbarung ein Kündigungsrecht vor, jedoch keine Regelung zu anschließenden Neuverhandlungen oder dem dann geltenden Beteiligungsregime, dürfte es am ehesten dem Willen der Parteien entsprechen, unmittelbar die gesetzliche Auffanglösung (§§ 22 bis 33 SEBG für den SE-Betriebsrat, §§ 34 bis 38 SEBG für die Unternehmensmitbestimmung) anzuwenden. Denn Neuverhandlungsfälle sind zwingend in der Beteiligungsvereinbarung selbst zu regeln (§ 21 Abs. 1 Nr. 6 SEBG) – machen die Parteien von der Regelungsmöglichkeit keinen Gebrauch, ist im Fall einer Kündigung eine endgültige Lösung von der Beteiligungsvereinbarung gewollt.

Die Beteiligungsvereinbarung dürfte in diesem Fall auch nicht nachwirken. Hiergegen spricht auch nicht eine vorübergehende Beteiligungslosigkeit bei Neuwahlen – eine solche ist dem SEBG nicht gänzlich fremd: So können die Verhandlungsvertreter der Arbeitnehmer sich im Zuge einer SE-Gründung auch gänzlich gegen Verhandlungen oder deren Abbruch entscheiden (§ 16 Abs. 1 SEBG).

Fazit

Änderungen der SE-Unternehmens- oder Gruppenstruktur können sich unmittelbar auf Beteiligungsrechte der betroffenen Arbeitnehmer auswirken und Neuwahlen in den SE-Aufsichtsrat oder in den SE-Betriebsrat erforderlich machen. Der Umgang mit solchen Fallkonstellationen lässt sich in der SE-Beteiligungsvereinbarung regeln. Diese sollte möglichst dynamisch formuliert sein und kurzfristige Anpassungen an geänderte Umstände ermöglichen.

Dr. Anne-Kathrin Bertke


Rechtsanwältin
Principal Counsel
Anne-Kathrin Bertke berät zu allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit bilden die Beratung bei komplexen Umstrukturierungen und Unternehmenstransaktionen, auch in der Insolvenz, bei inländischen und grenzüberschreitenden Umwandlungen, auf dem Gebiet der Unternehmensmitbestimmung und bei SE-Gründungen. Darüber hinaus berät sie Unternehmen und Führungskräfte bei Vorstands- und Geschäftsführerangelegenheiten, auch im Zusammenhang mit Börsengängen sowie im Bankensektor, und vertritt Mandanten in Gerichtsverfahren vor Zivil- und Arbeitsgerichten. Anne-Kathrin Bertke verfügt darüber hinaus über besondere Expertise bei der kommunikativen Begleitung von Mandaten. Sie ist Mitglied der Fokusgruppen Aufsichtsratsberatung, Unternehmensmitbestimmung und Private Equity/M&A.
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