Das Jahr 2023 ist nun beinahe wieder vorbei. Zur Anheizung der weihnachtlichen Vorfreude lesen Sie hier unseren Jahresrückblick auf eine kleine Auswahl an besonders beachtenswerten und für das Arbeitsrecht relevanten Urteilen – u.a. zu den Themen Equal Pay, Beweisverwertungsverbote, Geschäftsführerhaftung, Outsourcing und Strafrecht.
Wie in jedem Jahr gab es auch in 2023 wieder einige Gerichtsentscheidungen, die in einem arbeitsrechtlichen Jahresrückblick nicht fehlen dürfen. Unsere diesjährigen Top 6 möchten wir Ihnen gerne vorstellen.
Top 1
1. BAG: Equal Pay – Vergütung ist nicht (nur) Verhandlungssache
Das BAG bestätigte seine bisherige Rechtsprechung, dass eine Vergütungsdifferenz von weiblichen und männlichen Kollegen eine Benachteiligung wegen des Geschlechts begründen und eine Diskriminierung nicht (allein) durch ein besseres Verhandlungsgeschick des männlichen Kollegen widerlegt werden kann (BAG vom 16. Februar 2023 – 8 AZR 450/21).
Eine Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts wird nach § 22 AGG vermutet, wenn der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin nachweisen kann, dass der Arbeitgeber einem vergleichbaren Kollegen anderen Geschlechts ein höheres Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit zahlt. Der Arbeitgeber kann diese Vermutung widerlegen, indem er wiederum nachweist, dass die Ungleichbehandlung auf objektiven Faktoren beruht und gerade nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hat.
Die im Vertriebsaußendienst tätige Klägerin konnte in dem vom BAG entschiedenen Fall nachweisen, dass ihr männlicher Kollege bei gleichen Verantwortlichkeiten und Befugnissen sowie gegenseitiger Vertretung mehr Entgelt erhielt. Die beklagte Arbeitgeberin berief sich darauf, der männliche Kollege habe das höhere Entgelt verhandelt.
Das BAG stellte fest, dass Zwänge des Arbeitsmarktes eine höhere Vergütung Einzelner rechtfertigen können; solche hätte die Beklagte aber darlegen und beweisen müssen. Hierzu sei zumindest eine Darlegung der Personal- und der Bewerbersituation erforderlich, aus der sich das zwingende Bedürfnis der „teureren“ Einstellung ergebe. Allein der Umstand, dass die Beklagte den Forderungen nach einem höheren Entgelt nachgegeben habe, widerlege nicht die Vermutung einer Diskriminierung.
Top 2
2. BAG: Datenschutz ist kein Täterschutz! – Keine Verwertungsverbote in Betriebsvereinbarungen
Das BAG entschied: Verstöße gegen Datenschutzrecht und auch der Ausschluss von personenbezogenen Auswertungen oder gar ein ausdrückliches Verwertungsverbot in einer Betriebsvereinbarung führen grundsätzlich nicht zu Verwertungsverboten in einem Kündigungsschutzprozess. (BAG vom 29. Juni 2023 – 5 AZR 296/22).
Nachdem zunächst das LAG Niedersachen entschieden hatte, dass Erkenntnisse aus einer offenen Videoüberwachung aufgrund von Verstößen gegen Datenschutzrecht nicht in einem Kündigungsrechtsstreit verwertbar seien, hob das BAG diese Entscheidung auf und verwies sie zurück an das LAG zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts.
Die beklagte Arbeitgeberin warf dem Kläger einen Arbeitszeitbetrug vor, den sie durch die Aufnahmen einer offenen Videoüberwachung am Werkstor belegen konnte. Hierauf war der Kläger zu sehen, wie er das Werksgelände vor Ende der Mehrarbeitsschicht verließ, welche er sich jedoch vollständig vergüten ließ.
Das LAG begründete ein Verwertungsverbot bzgl. der Videoaufnahmen mit einem Verstoß gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Arbeitnehmers aufgrund der überlangen Speicherung von über einem Jahr und einem „eklatanten Verstoß“ gegen die Grundsätze der Datenminimierung und Speicherbegrenzung nach Art. 5 DSGVO. Außerdem sei in einer Betriebsvereinbarung über die Einführung der Videoüberwachung am Werkstor die personenbezogene Auswertung untersagt. Diese Verstöße führten zu einem prozessualen Verwertungsverbot der Erkenntnisse aus der Videoüberwachung.
Das BAG erteilte der Argumentationen des LAG eine Absage und stellte fest, dass es bei vorsätzlichen Pflichtverletzungen von Arbeitnehmern unerheblich sei, ob die Beweismittelerhebung nicht dem Datenschutzrecht entspräche. Ein Verwertungsverbot sei dann nur bei schwersten Grundrechtseingriffen geboten, welche bei einer offenen Videoüberwachung nicht vorlägen. Auch aus der Betriebsvereinbarung ergebe sich kein Verwertungsverbot, da den Betriebsparteien keine Regelungsmacht über das formelle Verfahrensrecht der Zivilprozessordnung zustehe.
Das BAG stellte mit seinem Urteil damit insbesondere klar, dass Forderungen von Betriebsräten nach Verwertungsverboten, Ausschluss von Leistungs- und Verhaltenskontrollen oder Verboten von personenbezogenen Auswertungen vor allem in Verhandlungen über die Einführung von IT-Systemen jede Grundlage fehlt.
Top 3
3. BAG: Keine Haftung des Geschäftsführers für Mindestlohnansprüche
Im März entschied das BAG, dass der Geschäftsführer einer GmbH gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB haftet, selbst wenn er für Verstöße der GmbH gegen ihre Verpflichtung, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zu zahlen (§ 20 MiLoG), bußgeldrechtlich verantwortlich sei (BAG vom 30. März 2023 – 8 AZR 120/22).
In entschiedenen Fall wollte der Kläger die Geschäftsführer auf Schadensersatz in Anspruch nehmen, nachdem ihm die Anstellungsgesellschaft nicht den gesetzlichen Mindestlohn gezahlt hatte. Der Kläger vertrat die Auffassung, dass die beklagten Geschäftsführer persönlich hafteten, da das MiLoG die fahrlässige oder vorsätzliche Nichtzahlung des gesetzlichen Mindestlohns mit Bußgeld bewehrt sei und die Beklagten gemäß § 9 OWiG als Organe auch taugliche Täter seien.
Diese Ansicht hat das BAG abgelehnt, denn die Bußgeldvorschriften seien kein Schutzgesetz im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der GmbH. Die fehlende Haftung begründete das BAG damit, wonach die GmbH bei Verstößen gegen gesetzliche Ge- und Verbote ausschließlich mit ihrem Gesellschaftsvermögen hafte (§ 13 Abs. 2 GmbHG) und eine Haftung der Geschäftsführer explizit nicht vorgesehen sei.
Das BAG hat damit klargestellt, dass Geschäftsführer weiterhin nur in Ausnahmefällen persönlich haften. Ein entsprechender gesetzgeberischer Wille müsse in diesen Ausnahmefällen deutlich erkennbar sein.
Top 4
4. BAG: Outsourcing im Konzern – Betriebsbedingte Kündigungen gestärkt
In einer weiteren wichtigen Entscheidung stärkte das BAG im Fall einer der Aufgabenverlagerung im Konzernverbund das Recht zur betriebsbedingten Kündigung (BAG vom 28. Februar 2023 — Az. 2 AZR 227/22).
Der klagende Arbeitnehmer war in leitender Vertriebsposition bei einem deutschen Unternehmen als Bindeglied zwischen den deutschen „Sales Directors“ und einer Vertriebschefin t, die bei einem Konzernunternehmen der beklagten Arbeitgeberin in London angestellt war, tätig gewesen. Die Arbeitgeberin des Klägers führte neue Vertriebsstrukturen ein, bei der die Sales Directors direkt an die Londoner Vertriebschefin berichten sollten. Für den Kläger wurde innerhalb der neuen Strukturen keine Verwendung gefunden, sodass ihm betriebsbedingt gekündigt wurde.
Das BAG hatte sich mit dem „Grundsatz der freien Unternehmerentscheidung“ zu befassen. Danach ist es nicht Aufgabe der Arbeitsgerichte, die Entscheidung eines Arbeitgebers, die zum Wegfall einer Stelle führt, auf ihre wirtschaftliche Notwendigkeit hin zu überprüfen. Im Kündigungsschutzprozess allerdings darf die Unternehmensentscheidung nicht als offenkundig unsachlich, unvernünftig oder willkürlich bewertet werden – insbesondere nicht, um Arbeitnehmer „loszuwerden“.
Das BAG stellte klar, dass Unternehmen auch innerhalb des Konzerns grundsätzlich freie Organisationsentscheidungen beim Outsourcing treffen können. Auch die Zugehörigkeit zum selben Konzern indiziere kein rechtsmissbräuchliches unternehmerisches Handeln. Somit war die betriebsbedingte Kündigung wirksam.
Top 5
5. BAG: Verschärfung der Voraussetzung zur Rückzahlung von Fortbildungskosten
Dauerbrenner Fortbildungskosten: In einem weiteren Fall hatte sich das BAG mit einer Rückzahlungsklausel und ihrer Wirksamkeit im Rahmen eines Fortbildungsvertrages zu befassen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen urteilte das BAG, dass die verwendete Rückzahlungsklausel die Beklagte unangemessen benachteilige und deshalb kein Vertragsbestandteil geworden sei (BAG vom 25. April 2023— 9 AZR 187/22).
Grundsätzlich ist es zulässig, Arbeitnehmer beim Abbruch von Fortbildungsmaßnahmen an den Fortbildungskosten zu beteiligen. Eine Rückzahlungspflicht darf jedoch keinen unangemessenen Bleibedruck auf den Arbeitnehmer ausüben.
Im entschiedenen Fall hatte die beklagte Arbeitnehmerin ein von der Arbeitgeberin finanziertes Steuerberaterexamen nicht angetreten. Die Rückzahlungsklausel des Vertrages über die Übernahme der Fortbildungskosten setzte pauschal am Nichtablegen der Prüfung an, ohne zwischen verschiedenen möglichen Gründen hierfür zu differenzieren.
Das BAG monierte, die Klausel sei zu allgemein und erfasse auch den Fall, dass der Arbeitnehmer aufgrund eines Grunds aus der Sphäre des Arbeitgebers kündige und deswegen die Prüfung nicht antrete. In einem solchen Fall sei die Rückzahlungspflicht unangemessen. Das BAG erachtete daher die Rückzahlungsklausel für unwirksam.
Top 6
In die diesjährige Aufzählung hat es auch ein Urteil des BGH in Strafsachen geschafft, welches Anfang des Jahres für erhebliches Aufsehen gesorgt und einen „Rattenschwanz“ an arbeitsrechtlicher Folgeproblemen und Streitigkeiten hervorgerufen hat.
Vorstandsmitglieder und Prokuristen des VW-Konzerns fanden sich vor dem 6. Strafsenat des BGH wieder. Ihnen wurde Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) vorgeworfen, da sie Betriebsratsmitgliedern Gehaltserhöhungen und Bonuszahlungen in erheblicher Höhe bewilligt hatten. Der BGH hob die Freisprüche der Vorinstanz auf und verwies die Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurück (BGH vom 10. Januar 2023 – 6 StR 133/22).
Das Landgericht als Vorinstanz hatte zwar den Tatbestand der Untreue als erfüllt angesehen, eine Verurteilung aber am fehlenden Vorsatz der Angeklagten scheitern lassen. Zur Begründung hatte es angeführt, dass sich die Angeklagten sowohl von der Rechtsabteilung als auch von externen Rechtsberatern die Rechtmäßigkeit der Betriebsratsvergütung bestätigen lassen hatten.
Dies überzeugte den BGH nicht. Rechtsgutachten, die als rechtlicher „Flankenschutz“ eingeholt würden, könnten nicht in jedem Fall den Vorsatz ausschließen. Das Bewusstsein, sich in einem rechtlichen Grenzbereich zu bewegen, könne für den nötigen Vorsatz genügen.
Es empfiehlt sich somit, die Betriebsratsvergütung ergebnisoffen zu überprüfen die anstehende Novellierung der Betriebsratsvergütung zu verfolgen.
Das Jahr 2023 ist somit von bedeutenden Gerichtsentscheidungen geprägt, welche die betriebliche Praxis unmittelbar beeinflussen werden.